Familiendrama in Großhadern:"Denk an deine schöne Seele"

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Es ist eine Tragödie, die sich seit Jahren angebahnt hat: Die Münchnerin Anja R. wurde im Schlaf von ihrem Adoptivsohn erstochen. Die Geschichte einer belasteten Beziehung, deren Ende niemand verhindern konnte.

Monika Maier-Albang

Es gibt nicht viele Fotos von ihr, obwohl viele in Großhadern sie gekannt haben. So mussten ihre Wegbegleiter suchen nach einem Bild, das sie in das Abschiedsheft drucken konnten. Das Foto zeigt eine Frau mit zierlichem Gesicht. Umrahmt ist das Gesicht von glattem, schwarzem Haar, obwohl Anja R. zum Zeitpunkt der Aufnahme schon über 60 war. Sie lacht bis über beide Ohren. Es ist ein Foto, das unter Freunden entstanden ist, an einem glücklichen Tag. Gedruckt hat es der Verein "Solidarität mit Waisen", den Anja R. vor 20 Jahren mitgegründet hatte und der ihr nun auf Kisuaheli, der Sprache, die der Ärztin von ihrer Arbeit in Ostafrika vertraut war, danke sagen möchte: "Asante!"

Das Grab der ermordeten Anja R. Schon länger gab es Reibereien zwischen ihr und ihrem Sohn. (Foto: Robert Haas)

Vor einer Woche war Anja R. von ihrem Adoptivsohn erstochen worden. Am Mittwoch wurde sie beigesetzt, im Grab der Eltern auf dem Waldfriedhof. Viele Menschen in Großhadern, die Anja R. kannten, können noch immer nicht fassen, was da passiert ist. Von einer Tragödie sprechen sie, was sicher richtig ist. Doch es ist eine Tragödie, die sich, soweit sich das bisher rekonstruieren lässt, schon über Jahre anbahnte. Es gibt Menschen, die die bedrängende Familiensituation kannten - und doch nicht helfen konnten. Da sind Polizei und Jugendamt, die Einblick in das Leben der Familie bekamen. Und dennoch nahm das Drama seinen Lauf. Es ist eine Geschichte, die Fragen aufwirft, welche sich wohl erst klären lassen, wenn Ujal, Anja Rs. Adoptivsohn, vor Gericht stehen wird. Falls sie sich überhaupt klären lassen.

Man muss sich Anja R. wohl vorstellen als Frau, die eine ungeheure Kraft besaß und einen unbändigen Willen, anderen zu helfen. Dass sie in "ihrem Ringen um Gerechtigkeit" sicher nicht perfekt gewesen sei, sagt Diakon Klaus Mrosczok beim Requiem - aber: Sie habe versucht, für andere zu leben, habe "ein Leuchten" gehabt. Anja R. stammt aus Großhadern, war schon als Kind in der katholischen Pfarrei St. Canisius aktiv. Nach der Volksschule schließt Anja R. eine Handelsschule ab und arbeitet ein paar Jahre als Sekretärin.

Doch der Beruf erfüllt sie nicht. Sie will Abitur machen, besucht ein Abendgymnasium, schafft die Prüfungen, studiert Pädagogik. Sie wird Volksschullehrerin. Und fängt erneut ein Studium an, neben ihrer Lehrertätigkeit. Sie studiert Medizin, besteht auch hier ihr Staatsexamen. Anstellung als Chirurgin findet Anja R. in Niedersachsen, in Papenburg. Von dort aus zieht es sie ins Ausland, zu den Menschen, von denen sie annimmt, dass sie am nötigsten ihre Hilfe brauchen: Sie geht nach Tansania, leitet in Mugana nahe dem Viktoriasee ein Landkrankenhaus. Sie ist die einzige Ärztin in der ganzen Gegend, steht oft bis zum Umfallen im Operationssaal.

"Sie war ein Panzer"

Sechs OPs an einem Tag sind keine Seltenheit. Die katholischen Theresien-Schwestern, die das Krankenhaus leiten und sich dort vor allem um Aids-Waisen kümmern, sind begeistert von ihrem Fachwissen. Doch manchmal beschleicht sie das Gefühl, dass diese Frau zu viel des Guten will. Das Zimmer im Krankenhaus lehnt sie ab; sie teilt lieber die Hütte mit den Armen, was aber das Immunsystem der Europäerin nicht verkraftet. Willenskraft hin oder her. Anja R. bekommt einen hartnäckigen Fußpilz, zieht schließlich doch in die Ärztewohnung um.

Von Hartnäckigkeit sprechen ihre Bekannten, auch von Dickköpfigkeit. "Sie war ein Panzer", sagt einer, der sie noch als "Ernie" kennt. Denn eigentlich hieß sie Erna-Maria, den Vornamen wechselte sie später. Der Verein, den Anja R. mitbegründet hatte, unterstützt noch heute den Schwesternorden in Tansania, für den sie tätig war. Inzwischen sind auch Jüngere im Vorstand aktiv; Schul- und Schneidereiprojekte sind hinzugekommen. Im Verein gab es nicht selten stundenlange Debatten mit ihr. Es war wohl nicht immer leicht, wenn Anja R. sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, es ihr auszureden. Etwa die Sonnenkollektoren, die sie für nötig hielt, die die Schwestern aber gar nicht wollten. Diese Sturheit legte Anja R. offenbar auch an den Tag, als es um die Adoption ging.

Ihre drei Adoptivkinder hatte sie in einem katholischen Waisenhaus in Dhaka gesehen, als sie 1992 nach einer Flutkatastrophe in Bangladesch tätig war. Zwei Mädchen und Ujal, den Jungen, der damals drei Jahre alt war. Eigentlich, so erinnern sich Freunde, will sie mit den Kindern in Dhaka bleiben, doch ein Hauskauf dort scheitert. Also kehrt sie zurück nach München; doch in Bayern sind die Behörden von der Vorstellung nicht begeistert, dass eine alleinstehende Frau drei Kinder großziehen will. Als sie in München nicht weiterkommt, zieht Anja R. nach Lingen in Niedersachsen; hier hat sie Bekannte aus ihrer Zeit in Papenburg. Dort klappt es mit der Adoption. Erst 1995 kehrt Anja R. nach München zurück, zieht ins Haus ihrer verstorbenen Eltern.

Und die Nachbarn rätseln: Wie schafft sie das? Anja R. ist schon über 50, als sie die Kinder adoptiert. Die Mädchen sind inzwischen aus dem Haus; eine hat selbst eine kleine Tochter. Ujal bleibt bei der Mutter; seit Jahren muss die Beziehung für beide Seiten extrem belastend gewesen sein, Mutter und Sohn rieben sich aneinander, bis zu dem Punkt, dass der heute 20-Jährige seine Mutter körperlich anging. Schon im Alter von zwölf, 13 Jahren, so erzählen Bekannte, habe sich das Jugendamt eingeschaltet. "Ab und an ging jemand mit ihm ins Kino", sagt ein enger Bekannter der Familie. Dass die Betreuung intensiviert worden sei, als Ujal straffällig wurde, ist ihm nicht bekannt.

Der Junge, der lernbehindert ist, muss mehrere Schulen verlassen. Er klaut, nimmt Drogen, kommt in den Knast. Die Mutter träumt derweil davon, dass er das Abitur schafft wie sie. Seit er im vergangenen Jahr aus der Haft entlassen worden sei, habe er nicht mehr geraucht, getrunken, keine Drogen mehr genommen, sagen die Bekannten. Soweit sie das wissen. Sie kennen ja auch die andere Seite des jungen Mannes, der beim Requiem am Mittwoch in St. Ignatius in Abwesenheit mit begrüßt wird - als einer, "der auch trauert". Es ist die Pfarrei, in der Ujal eine alte Dame, die im Rollstuhl sitzt, zuverlässig zur Messe gefahren hat.

Daheim aber eskaliert die Situation. Ujal schlägt zu, die Mutter geht nicht zur Polizei. Als die im Juni doch davon erfährt, will Anja R. nicht gegen ihren Sohn aussagen. Wenn er sie schlägt, appelliert sie an ihn mit Sätzen wie "Denk an deine schöne Seele". Wenn er sich einsperrt, steht sie lange vor seiner Tür und redet auf ihn ein. Der Junge, so erzählen Freunde, habe mit dem Gedanken gespielt, sich das Leben zu nehmen. Und sie sagen, dass er es nicht mehr aushielt daheim. In der Woche vor dem Mord habe er bei der Polizei angerufen und gebeten, man möge ihn von daheim wegholen. Die Polizei kann dies nicht bestätigen. Man wisse nichts von einem solchen Anruf, heißt es, werde dem aber nachgehen.

Über sein Motiv schweigt Ujal nach wie vor. Ein psychologisches Gutachten ist in Auftrag gegeben. Die Ermittler haben längstens sechs Monate Zeit, dann muss Anklage erhoben werden; bei Heranwachsenden drängt der Gesetzgeber zur Eile. Die Mordkommission wird nun Zeugen befragen. Ungewöhnlich viele hätten sich von sich aus gemeldet, heißt es bei der Polizei, was man dort für "ebenso erfreulich wie erstaunlich" hält.

Vielleicht haben viele das Gefühl, dass sie dies dieser ungewöhnlichen Frau schuldig sind. Oder ihrem Sohn.

© SZ vom 19.08.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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