40 Jahre Gebietsreform:"Ich bin dafür, den Orten ihre Identität zu lassen"

40 Jahre Gebietsreform: Helmut Englmann ist Altbürgermeister von Aschheim.

Helmut Englmann ist Altbürgermeister von Aschheim.

(Foto: Claus Schunk)

Als Gemeinderat und später als Bürgermeister von Aschheim war es Helmut Englmann wichtig, dass Dornach nach der Eingemeindung eine gewisse Eigenständigkeit behält. Auch deshalb sieht er die Gebietsreform vor 40 Jahren in der Rückschau als gelungen an.

Interview von Sabine Wejsada und Irmengard Gnau

Helmut Englmann (CSU) war von 1984 bis 2014 Bürgermeister in Aschheim. Als Gemeinderat und Kreisrat (von 1966 bis 2008) hat er in den Siebzigerjahren die zweistufige Gebietsreform in Bayern miterlebt. Im Gespräch erinnert sich der 78-Jährige an die großen Debatten damals und spricht über die Frage, wie sich angesichts bürokratischer Zwänge Identität bewahren lässt.

SZ: Herr Englmann, die Gemeindegebietsreform vor 40 Jahren war eine turbulente Zeit. Wie haben Sie diese erlebt?

Helmut Englmann: Wenn wir über die Gemeindereform sprechen, dann sollten wir zuerst über die Landkreisreform reden. Man kann die Gemeindegebietsreform nur verstehen, wenn man beide gemeinsam betrachtet. Ich habe die Landkreisreform miterlebt und sie ein wenig mitgestalten dürfen. Ich bin 1966 in den Gemeinderat von Aschheim gekommen und gleichzeitig in den Kreistag. Damals war Peter Hecker Landrat, 1970 kam Joachim Gillessen (beide CSU, Anm. d. Red.). Der Landkreis München sollte aufgelöst werden, gedacht war eine Sektorenlösung.

Wie sollte diese aussehen?

Der Norden wie Oberschleißheim sollte zum Kreis Freising kommen, der Ostbereich mit Aschheim nach Erding, andere nach Ebersberg, der Süden nach Bad Tölz und Wolfratshausen, der Westen nach Starnberg. Aber die Bürger wollten das nicht, sie wollten den Landkreis München erhalten, samt dem Kfz-Schild mit dem M, weil sie an München gewohnt waren, zwar nicht als städtische Münchner, aber als Landkreis-Münchner. Das war eine ganz wichtige Identifikation. Die Bürger haben sich sofort und massiv gewehrt gegen die Sektorenlösung.

Wie muss man sich das vorstellen?

Schriftlich, mündlich, jeder Abgeordnete kam sofort ins Kreuzfeuer, die Bürgermeister waren sehr unter Druck. Diese kämpften natürlich auch; sie wollten lieber zum Landkreis München gehören, nicht nach Freising, Erding oder Ebersberg. Doch der damalige CSU-Innenminister Bruno Merk war entschlossen, die Sektorenlösung durchzusetzen. Die Gemeinden, deren Bürger im Tarifsystem des MVV heute nur zwei Streifen stempeln müssen, sollten wohl nach München eingemeindet werden, alle anderen aufgeteilt. Dagegen gab es massiven Protest von allen Seiten.

War der Widerstand so zu erwarten? Identifikation mit einem Landkreis ist abstrakter als zu einer Gemeinde. . .

Ich habe das auch nur einmal so erlebt, damals, als der Landkreis hätte aufgelöst werden sollen. Das war wirklich fantastisch. Plötzlich gab es ein Gefühl: München-Land sollte bleiben. Doch der Protest verhallte zunächst, Minister Merk war nicht zu erweichen. Ich habe mir als junger Kreisrat damals erlaubt zu sagen: Wenn wir schon aufgelöst werden sollen, dann können wir ja auch die Vergrößerung des Landkreises fordern. Unser Landrat Gillessen war offensichtlich derselben Ansicht, er präsentierte kurz darauf eine große Karte mit einem Riesenlandkreis. Und von da an ging es nur noch darum, wie groß der Landkreis München werden sollte.

Und wie groß sollte er werden?

Zum Beispiel sollte Vaterstetten zu uns kommen, Sauerlach, was ja dann auch passiert ist. Von einer Zerschlagung war jedenfalls keine Rede mehr. Drei Persönlichkeiten waren ausschlaggebend für den neuen Plan: Landrat Joachim Gillessen, der CSU-Landtagsabgeordnete des Landkreises Hermann Zenz und der Ismaninger Bürgermeister und SPD-Landtagsabgeordnete Erich Zeitler, damals Vorsitzender des Rechts- und Verfassungsausschusses. Es kam noch eine vierte Kraft dazu: Die Meinung der Bürger. Zusammen wurde Merk auf den richtigen Weg gehievt. Der Landkreis blieb also erhalten - und wurde sogar noch vergrößert.

Schüler beim Puzzlen, 1972

Puzzlen im Heimatkundeunterricht: Nach der Gebietsreform lernen Schüler spielerisch den neuen Zuschnitt des Landkreises. Wo das Foto aufgenommen wurde, ist nicht bekannt.

(Foto: AP)

Der Landkreis München ist ein offener Ring, das Landratsamt steht in München. Fühlen sich die Landkreisbürger dennoch zusammengehörig?

Ich denke schon, dass eine Zusammengehörigkeit da ist, auch wenn es innerhalb des Landkreises einzelne Bereiche gibt: Der Aschheimer erfährt wenig vom Gräfelfinger. Aber ich bin überzeugt, dass die Landkreisbürger auch heute noch Sturm laufen würden, sollte der Landkreis zerschlagen oder aufgeteilt werden. München ist zwar die indirekte Zentralstadt, aber München-Land ist eins und der Heimatort ist wichtig.

Kommen wir zur Gebietsreform 1978. Wie haben Sie diese erlebt?

Dass der Landkreis überlebt hat und größer geworden ist, hat der Identifikation gut getan. Die Gemeinden blieben erhalten, es gab keine Eingemeindungen nach München. Landrat Gillessen sagte damals: In meinem Landkreis gibt es nur Einheitsgemeinden. Starke, selbständige Gemeinden waren gebraucht, allein schon wegen des großen Nachbarn München. Dann begannen die Probleme: Wer sollte zu wem?

Gab es eine vorgegebene Anzahl, die am Ende erreicht werden sollte?

Das ist mir nicht bekannt. Interessant waren die Vorgaben: Unter 3000 Einwohnern sollte eine Gemeinde nicht haben, möglichst 5000 war das Ziel. Garching oder Unterschleißheim etwa hatten damals schon mehr, sie waren von der Gebietsreform nicht betroffen. Eine ganze Reihe von Gemeinden war aber kleiner, Höhenkirchen oder Siegertsbrunn zum Beispiel.

Aschheim und Dornach auch. . .

Es gab mehrere Modelle: München hat geltend gemacht, wen es gern eingemeinden wollte - zum Beispiel Dornach. Doch das war weder von den Dornachern noch von uns im Landkreis gewünscht. Oder Feldkirchen, Kirchheim, Heimstetten und Aschheim sollten in einer Gemeinde aufgehen - diese "Gabel-Lösung" war aber auch nicht gewollt. Am Ende wurden Kirchheim und Heimstetten zusammengeführt und Aschheim und Dornach auch.

Wie hat das bei Ihnen funktioniert?

Aschheim war Ende der Sechzigerjahre schon an der 3000-Einwohner-Grenze. Mein Vorgänger im Bürgermeisteramt, Franz Ruthus (CSU, Anm. d. Red.), hat dem Gemeinderat empfohlen, rasch Siedlungen zu bauen, sodass mehr Menschen zuzogen und Aschheim gesichert war. Eine weise Entscheidung, denn nach der Landkreisgebietsreform musste schnell gehandelt werden. Dornach aber hatte nur etwa 500 Einwohner. Der Ort hat sich gegen die Eingemeindung gewehrt, einen Rechtsanwalt eingeschaltet. Das hat aber nichts geholfen. Den Dornachern hat es natürlich nicht gefallen, dass sie nach Aschheim sollten. Allerdings wären sie nach einer Eingemeindung durch München dort vielleicht das 197. Rad am Wagen gewesen - bei uns waren sie zumindest das zweite.

Wie haben Sie versucht, den Übergang zu gestalten? Was war der erste Schritt?

Mein Vorgänger Ruthus sagte klar: Wir machen Dornach ein anständiges Angebot: Dornach ist formal eingemeindet, hat aber von Haus aus bestimmte Rechte.

Was waren das für Rechte?

Man hat versucht, den Übergang abzufedern. In einem Vertrag haben wir unter anderem festgehalten, dass die Dornacher ihr Bürgerhaus weiterhin vornehmlich nutzen dürfen, dass Dornach bestimmte Freizeiteinrichtungen bekommt und das Dornacher Jagdrevier erhalten blieb. Ein Angleich der Hebesätze war Ehrensache. Und ein ganz wichtiger Punkt war, dass die Feuerwehr als selbständige Einrichtung bestehen blieb. Wir haben uns exakt daran gehalten, auch dann in meiner Zeit als gewählter Bürgermeister.

War das nötig, um die Akzeptanz der Eingemeindung zu erhöhen?

Absolut. Die Feuerwehr war in Dornach ganz wichtig, fast jeder Mann war drin. Deshalb hat die Gemeinde Aschheim heute noch zwei Feuerwehren. Hilfreich war, dass es bereits einige Gemeinsamkeiten gab: Die katholischen Kirchen von Dornach und Aschheim bilden etwa eine historische Gemeinschaft. Seit Dornach 1838 aus der Pfarrei Ottendichl ausgegliedert wurde, gehört St. Margarethen zu St. Peter und Paul in Aschheim. Es gab den Männergesangsverein und den Krieger- und Veteranenverein, die Mitglieder aus beiden Orten hatten. Das waren wichtige Neben-Verhandlungswege. Und es spielten Dornacher beim FC Aschheim Fußball, damals gab es keinen eigenen Dornacher Verein.

Dornach war mit dem Label "Reiche Braut" versehen. . .

Naja, wegen des dortigen Gewerbes. Aschheim war auch nicht ganz arm, darauf hat mein Amtsvorgänger immer hingewiesen.

Wie sah die Vertretung Dornachs im Gemeinderat von Aschheim aus?

Die CSU hat 1966 in Aschheim erstmals die Mehrheit geholt und hat, als abzusehen war, dass Dornach nicht selbständig bleiben sollte und nicht nach München wollte, sofort begonnen, die Fühler auszustrecken und Mitstreiter zu gewinnen. Ähnlich hat es auch die SPD gemacht, um gewappnet zu sein, wenn die Reform kommt. Seit 1978 waren Vertreter von Dornach im Gemeinderat, und immer war ein Dornacher Zweiter oder Dritter Bürgermeister.

Warum war das so wichtig?

Ich habe immer gesagt: Wir Aschheimer müssen das Bild von der anderen Seite anschauen und uns fragen: Wie würden wir reagieren, wenn wir an der Stelle der Eingemeindeten wären? Wie würde uns das treffen? Da wären wir auch froh, wenn wir auf gleicher Augenhöhe sein könnten, zumindest einigermaßen. Herbert Bayer aus Dornach hat diesbezüglich sehr viel geleistet, Georg Hornburger, heute Dritter Bürgermeister, ist seit 40 Jahren im Gemeinderat. Das war für mich ganz wichtig. Die Vereine haben auch viel beigetragen und mein Vorgänger sowieso, dass die Gebietsreform, die immer mit Schmerzen verbunden ist, bei uns relativ gut abgelaufen ist.

Der von Ihnen angesprochene Vertrag war die Grundlage dafür?

Ja, so ist es. Denken Sie nur an den Umbau des alten Dornacher Rathauses. Es wurde nicht abgerissen, wir haben die Dornacher Bürger gefragt, was damit geschehen soll, und die Mehrheit war dafür, den Kreisjugendring dort unterzubringen.

Wie betrachten Sie es heute, nach 40 Jahren: Ist es vorstellbar zu sagen, nun ist es gut, jeder ist sich seiner Identität sicher. Jetzt reicht zum Beispiel eine gemeinsame Feuerwehr, ein Gerätehaus?

Ich würde es für die nächste Zeit nicht für gut befinden. Ich bin dafür, den Orten ihre Identität zu lassen. Es gibt freilich eine gute Zusammenarbeit, zum Beispiel bei den First Respondern. Aber es geht um die grundsätzliche Selbständigkeit, zwei leistungsfähige Feuerwehren zu haben.

Das muss sich eine Gemeinde natürlich auch leisten können: zwei Feuerwehrhäuser zu finanzieren, zwei Fußballplätze. . .

Ja, aber darauf haben wir geachtet. Wir waren bei Ausweisungen darauf bedacht, dass nicht nur einzelne Grundstücksverkäufer noch reicher werden, sondern dass die Bürger insgesamt profitieren. So ist alles bezahlt worden. Man muss die finanziellen Mittel erreichen wollen.

Was würde passieren, wenn das Innenministerium heute auf die Idee käme, noch einmal eine Gebietsreform anzustoßen?

Die Gemeinden im Münchner Landkreis haben eine gewisse finanzielle Stabilität und ein gutes Selbstbewusstsein, die würden eher sagen, wir lassen es, wie es ist.

Wie lautet heute Ihr Fazit: Ist die Gebietsreform von 1978 eine gelungene?

Einen Gesamtüberblick habe ich nicht. Ich denke, eine Reform war nötig, um handlungsfähige Gemeinden zu schaffen. Sie ist weitgehend gelungen. Es kommt darauf an, ob die einzelnen Orte ihre Identität behalten können.

So wie in Aschheim und Dornach?

Ja. Natürlich werden Sie in Dornach jemanden finden, der nicht zufrieden ist. Aber dem sage ich: Suche dir eine einsame Insel, da kannst du die Selbständigkeit besser durchsetzen.

Kommunale Gebietsreform

Ende der Sechzigerjahre beschloss der bayerische Landtag, die bestehende Kommunalverwaltung zu reformieren. Durch größere Landkreise und Gemeinden sollten diese leistungsfähiger und effizienter werden, das Leistungsgefälle zwischen Stadt und Land abgebaut. Alfons Goppel (CSU), Ministerpräsident von 1962 bis 1978, nannte die Reform die wichtigste innenpolitische Aufgabe der Legislaturperiode ab 1967. Die Reform teilte sich in zwei Schritte: Zunächst sollten die bayerischen Landkreise und kreisfreien Städte neu zugeschnitten werden. Ende 1972 wurden so aus ehemals 143 Landkreisen und 48 kreisfreien Städten am Ende 71 neue Kreise und 25 kreisfreie Städte. Im zweiten Schritt folgte die Gemeindegebietsreform: Aus einst 7004 selbständigen bayerischen Gemeinden wurden 2050. Federführend bei der Reform war CSU-Innenminister Bruno Merk (1966 bis 1977), später sein Nachfolger Alfred Seidl. Im Landkreis München wurden aus 39 Gemeinden 29. gna

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