SZ-Serie Landmarken: Neuried:Bescheidenheit als Zier

Das Alte Rathaus von Neuried, 1913 im Gartenstadtstil gebaut, steht für den ortstypischen unaufgeregten Pragmatismus der Gemeinde - aber auch für deren Eigenständigkeit gegenüber der großen Stadt.

Von Julian Raff, Neuried

Ein Ort stapelt tief: Scheinbar willkürlich ins Stadtrand-Allerlei von Fürstenried West gepflanzt, markiert ein Ortsschild Neurieds historische und politische Selbständigkeit - und das war es dann auch fast schon. Selbst tief im Münchner Stadtgebiet gibt es markantere Dorfkerne.

Architektonische Aha-Effekte löst auch das Alte Rathaus an der Planegger Straße kaum aus, man könnte es genauso gut für eine kleine, etwas nah an die überbreite Ortsdurchfahrt geratene Vorstadtvilla halten. Da kann es schon passieren, dass unmittelbar vor dem Eingang Jung-Neurieder fragen, wo sie denn hier ihren neuen Pass beantragen können - der "Rathaus"-Schriftzug über der Tür fällt nur von der anderen Straßenseite aus auf.

Kurzum: eine gebaute Bescheidenheitsgeste und vielleicht gerade deshalb eine Landmarke. Der Bau steht für einen ortstypischen unaufgeregten Pragmatismus und zugleich für eine Autonomie, die immer wieder in Frage stand. Obwohl es 1913 im Gartenstadtstil gebaut wurde, setzte das Rat-Häusl eine zutiefst ländliche Bautradition bis weit ins 20. Jahrhundert hinein fort, nämliche die Einheit von Schulhaus, Lehrerwohnung und "Gemeindekanzlei". Ein eigenes Schulhaus brauchte der Ort erst nach der Eingemeindung Forstenrieds, wohin die Kinder, bis 1912 zur Schule gingen. Den Baugrund hatte die Gemeinde relativ günstig vom weithin renommierten Nervenarzt Dr. Ernst Rehm erworben, der zuvor, sei es aus Spekulationsgründen oder für den Bau eines Sanatoriums, den halben Ort aufgekauft hatte.

Die Gemeinde wollte Teil von München werden

Dennoch verschlang das Projekt mit Bau- und Grundstückskosten von rund 40 000 Mark gut das Vierfache eines Jahresetats - was ein aus heutiger Sicht fast unglaubliches Ansinnen verständlicher macht: Ende 1911 hatte die Gemeinde, damals eine winzige, abgelegene Siedlungsinsel, die "Einverleibung" sprich Eingemeindung nach München beantragt, von den Städtern aber die kalte Schulter gezeigt bekommen. Neben einem Schulbau aus dem Stadtsäckel und Anschluss ans Wassernetz winkte sogar eine Trambahnlinie. Verlockende Perspektiven also, für ein armes Bauerndorf in ungünstiger Lage zwischen Isar- und Würmtal.

Knapp drei Jahrzehnte später hätte die "Hauptstadt der Bewegung" den Ort dann gerne geschluckt, so wie sie es auch mit Aubing, Pasing, Großhadern und Solln getan hatte. Ähnlich wie in Grünwald verhinderte schließlich auch hier der Zweite Weltkrieg die Eingemeindung per NS-Dekret. Allerdings hatte ein langjähriger Bewohner des Schul- und Rathauses zumindest einen gewissen Anteil daran, die Pläne lange genug zu verzögern. Josef Kaiser, Dorflehrer und Bürgermeister, bewohnte das Haus von 1919 bis 1945 in Doppelfunktion.

Aus seiner Zeit finden sich im Gemeindearchiv auch Dokumente, die karge Lebensumstände belegen, wie etwa der Antrag auf eine motorbetriebene Wasserpumpe als Ersatz für den Hand-Ziehbrunnen. Beengt ging es mit nur einem richtigen Klassenzimmer sowieso zu. Als sich die Schülerzahl nach dem Krieg dann der Hundertermarke näherte, wurde es vollends unerträglich. Mit der Eröffnung der neuen Grundschule am Haderner Weg gewann die Gemeindeverwaltung dann 1960 zwar ein eigenes Domizil, das aber auch in dieser Nutzung schnell aus allen Nähten platzte, so rasch, wie der Ort und die Aufgaben der kommunalen Verwaltung wuchsen.

Der Charme des alten Gebäudes

Spätestens nachdem Neuried seine Eigenständigkeit auch über die Landkreis- und Kommunalreformen der Siebzigerjahre hinweg gerettet hatte, tat eine Erweiterung not. Ein Containerbau hält seit Ende der Neunziger als Dauerprovisorium her. Die im Rathaus verbliebenen Mitarbeiter genießen unterdessen den Charme des alten Gebäudes, zu diesem gehören auch Sanitärräume im Nachkriegsdesign und urige Mansardenbüros, deren Raumklima sich draußen herrschenden Kälte- und Hitzewellen bereitwillig anpasst.

Geht es nach den Wünschen der Neurieder Bürger und ihrer Vertreter, werden die Verwaltungsleute nicht mehr allzu lange schwitzen, frieren und die Köpfe einziehen müssen. Das einst rund ums Schulhaus erworbene, heute vor allem als Parkplatz genutzte Grundstück soll neue, Wohn- und Geschäftshäuser aufnehmen, aus dem Erlös könnte die Gemeinde ein neues Rathaus bauen. Mit dem Rückenwind einer Immobilienstudie und eines frisch abgeschlossenen Dialogverfahrens zur Bürgerbeteiligung könnte der Neubau bis 2020 stehen.

Geplant ist ein nüchterner, funktionaler Bau nach dem Muster des neuen Gilchinger Rathauses. Ein "Denkmal" wolle jedenfalls niemand, hatte Bürgermeister Harald Zipfel (SPD) bereits Anfang des Jahres klargestellt. Wozu auch? Ein unspektakuläres Symbol ihrer Selbständigkeit haben die Neurieder seit 103 Jahren und werden es dank amtlichen Schutzes auch behalten. Egal wer dort künftig wohnt oder arbeitet.

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