SZ-Adventskalender:Trotz allem eine Riesengaudi

Das große Freizeitangebot des Elternkreises für behinderte Kinder in Neubiberg bringt betroffene Familien zusammen und erleichtert ihnen den nicht immer einfachen Alltag

Von Claudia Wessel, Neubiberg

Vier fröhliche Frauen sitzen an diesem Vormittag im Wohnzimmer von Hiltrud Coqui in Neubiberg und erzählen sich Anekdoten von ihren Kindern beziehungsweise von deren Freunden. Barbara Baumgartner etwa erwähnt einen jungen Mann, der sich bei der jüngsten Disco-Veranstaltung köstlich amüsiert habe, obwohl er als Autist Lärm ansonsten furchtbar hasse. Baumgartner demonstriert, wie der junge Mann sich die Ohren zugehalten, dabei aber mit begeistertem Gesichtsausdruck im Takt mitgewippt habe. "Die Disco ist sowieso der Renner", sagt Coqui, und alle stimmen zu. Jede weiß auch von ihrem eigenen Kind zu berichten, wie sehr es diese Veranstaltung liebt. Und man merkt den vier Müttern an, wie sie sich darüber freuen, wenn ihre Söhne und Töchter Spaß haben.

Alle vier Frauen haben ein schwer behindertes Kind. Sie gehören zum "Elternkreis behinderter Kinder Neubiberg", einer 1981 gegründeten Selbsthilfegruppe betroffener Eltern, zu der heute insgesamt etwa 70 Familien aus dem Südosten Münchens und dem Landkreis gehören. Darunter sind auch solche mit inzwischen erwachsenen Kindern so wie die vier an diesem Morgen hier versammelten Frauen. Christa Brodowskis 35-jähriger Sohn Norbert kann unter anderem nicht sprechen. Erst als er 16 Jahre alt war, hat er gelernt, gestützt zu kommunizieren, also auf Buchstaben zu zeigen. Aufgrund einer Störung der Bewegungssteuerung im Gehirn kann er sich außerdem nicht aus eigenem Antrieb bewegen, man muss ihn dazu animieren. Seit seinem 22. Lebensjahr lebt er in einer Einrichtung für Behinderte. Elfi Böcks Sohn Severin, 25, wohnt noch daheim. Er ist Autist, kann ebenfalls nur gestützt kommunizieren. Barbara Baumgartners Sohn Tilman ist 32 und hat das Rubinstein-Taybi-Syndrom, Hiltrud Coquis-Tochter-Sandra, 36, hat das Wolf-Hirschhorn-Syndrom. Beide wohnen in Einrichtungen, beide haben geistige Entwicklungsverzögerungen, teilweise mit körperlichen Behinderungen.

Dass die vier Frauen heute so unbeschwert über ihre Kinder sprechen können, verdanken sie nach eigener Aussage der gegenseitigen Unterstützung, die man sich im Elternkreis bietet. Entstanden ist dieser auf Anregung des damaligen Neubiberger Bürgermeisters Josef Schneider. Der lud Eltern mit behinderten Kindern zu einem Treffen in der Gemeinde ein. Es kamen sieben Elternpaare, die er fragte, was sie bräuchten. "Er hatte Ideen wie abgesenkte Bürgersteige oder rollstuhlgerechte Wege", erinnert sich Hiltrud Coqui. "Doch es war viel einfacher. Wir wünschten uns einfach nur den gegenseitigen Kontakt." Aufgrund der großen Alltagsbelastung mit ihren behinderten Kindern hatte es keine der damals jungen Familien bis dahin geschafft, andere Betroffene kennenzulernen. Dank Schneider wurde der Arbeitskreis gegründet, und von da an entstanden ein regelmäßiger Stammtisch und ein großes Freizeitprogramm. Mittlerweile gibt es eine Sportgruppe, eine Schwimmgruppe, den Freizeitclub "Traumhaus", regelmäßige Ausflüge und eben den beliebten Disco-Abend im Neubiberger Jugendtreff Gleis 3.

So können Sie spenden

Adventskalender für gute Werke

der Süddeutschen Zeitung e.V.

Stadtsparkasse München

IBAN: DE86 7015 0000 0000 6007 00

BIC: SSKMDEMM

www.sz-adventskalender.de

www.facebook.com/szadventskalender

Auch die Weiterbildung spielte von Anfang an eine große Rolle. Man organisierte Vorträge von Fachleuten zu diversen Therapien, über die Pflegeversicherung und das Bundessozialhilfegesetz. Als die Kinder langsam in das Alter kamen, in dem die Frage auftauchte, packte man ein heißes Eisen an: das Thema Ablösung. Dass es eher als "Abschiebung" verstanden würde, wenn man das zwar erwachsene, aber doch behinderte Kind aus dem Haus geben würde, fürchteten die meisten Eltern. Leider müsse man solche Bemerkungen auch von der Umwelt hören, geben die Frauen zu. Doch sie wissen inzwischen, dass es auch für einen schwer behinderten jungen Erwachsenen gut ist, von zu Hause wegzukommen. "Das bietet neue Entwicklungsmöglichkeiten", sagt Coqui. So wie andere junge Erwachsene auch, wollen sie aus dem Leben der Eltern herauswachsen.

Wie gerne die jungen Leute auch mal ohne Eltern sind, zeigen eben auch die beiden Freizeit-Ideen, die der Arbeitskreis entwickelt hat. Einmal der "Club Traumhaus", eine Veranstaltung an jedem dritten Samstagnachmittag, bei der die jungen Behinderten mit einem Betreuer etwas unternehmen. Und dann, ganz wichtig, die Disco. Die findet nur viermal im Jahr statt, das nächste Mal am 11. Dezember, doch sie ist eindeutig der Renner. Und auch die jetzt schon sehr erwachsenen Kinder der vier Frauen hier am Tisch gehen noch gerne dorthin. "Sandra ist nie so entspannt, wie wenn sie von der Disco kommt", freut sich Hiltrud Coqui. Jeder, der mit seinem behinderten Jugendlichen dorthin möchte, kann sich per E-Mail an die Adresse claudiareimer@gmx.net anmelden.

Doch auch gemeinsame Ausflüge mit den Eltern werden regelmäßig geboten. Etwa zum Barfußweg in Bad Wörishofen. Oder zur Regenwald-Ausstellung nach Rosenheim. Außerdem Städtetouren nach Salzburg, Innsbruck oder Augsburg. Immer wieder neue Ideen werden entwickelt. Und bei diesen Ausflügen in großer Gruppe "haben wir immer eine Riesengaudi", sagt Christa Brodowski.

Eine Riesengaudi? "Natürlich", geben die vier Frauen zu, "die jungen Familien, die im Arbeitskreis sind, sind oft am Anschlag." Doch gerade für sie sei die ganz andere Ausstrahlung der langjährigen Mitglieder extrem wichtig, betonen die älteren Mitglieder des Arbeitskreises. Daher stieß die Idee, für die jungen Familien einen eigenen Stammtisch zu gründen, gar nicht auf so viel Gegenliebe. "Die wollen unsere Erfahrung", sagt Coqui. Das Treffen findet einmal monatlich statt.

SZ-Adventskalender: Im Club Traumhaus im Jugendtreff Gleis 3 können die Kinder ganz ohne ihre Eltern Spaß haben.

Im Club Traumhaus im Jugendtreff Gleis 3 können die Kinder ganz ohne ihre Eltern Spaß haben.

(Foto: Claus Schunk)

Wie wichtig dieser Kontakt ist, zeigt sich immer wieder. "In den ersten Jahren geht es immer um die Suche nach dem Warum", können die erfahrenen Eltern etwa den "Neulingen" sagen. Man will und bekommt immer wieder neue Diagnosen, beschäftigt sich ewig mit den medizinischen Details - obwohl sie letztlich gar nichts bringen, denn an der Situation ändert sich nichts. "Man muss aber erst mal an den Punkt kommen, an dem einem das Syndrom egal ist", sagt Elfi Böck.

Die Freizeitgestaltung und die Referenten, die die Eltern zu wichtigen Themen informieren, kosten Geld, das der Arbeitskreis mit Hilfe von Spenden und Zuschüssen finanziert. Gerne würde man Helfer schulen, die bei der Disco und beim Club Traumhaus tätig sind, wo die jungen Leute ohne Eltern hingehen. Denn die Betreuung von schwer behinderten Menschen ist keine leichte Sache. Selbst beim Tanzen und Spaßhaben müssen kompetente Kräfte dabei sein. Die Eltern, die ja auch nicht jünger werden, können sich derweil einmal entspannen. Und fröhlich sein.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: