SZ-Adventskalender:"Das Leben geht weiter"

Bei Reversy in Grünwald lernen Menschen mit Hirnschädigungen, wie sie Alltag und Arbeit meistern können

Von Claudia Wessel, Grünwald

Alle 17 Bewohner des Wohnheims Reversy in der Otto-Heilmann Straße 7 in Grünwald haben Schädel-Hirn-Verletzungen. Da ist etwa der 19-Jährige, der bei einer Party vom Schuldach gefallen ist. Auf den ersten Blick sieht man ihm seine Krankheit nicht an. Es kommt einem vielleicht nur seltsam vor, so schildert Heimleiterin Kathrin Balleis sein Verhalten, dass er auf einen zugeht, als kenne er einen seit Jahren, dass er einen mit Komplimenten überschüttet und sofort nach dem Alter fragt. "Er hat eine Frontalhirnschädigung", erklärt Balleis. Die Folge davon sei oft ein Nähe-Distanz-Problem.

Dann ist da die 19-Jährige, die ein Gewaltverbrechen überlebt und eine Abraxie davongetragen hat. "Ihr fehlen die Verknüpfungen", berichtet Balleis. "Sie hat etwa inzwischen gelernt, sich auf einen Stuhl zu setzen. Aber wenn sie dann woanders ist und der Stuhl anders aussieht, weiß sie nicht mehr, was sie tun soll." Eine weitere Bewohnerin ist eine Frau, die einen Skiunfall hatte. Danach ließ sie sich nur zwei Wochen krankschreiben und ging dann wieder zur Arbeit. Zwei weitere Wochen später hatte sie einen Schlaganfall. Man vermutet, dass sie sich zu schnell wieder belastet hat.

Einem anderen Bewohner fiel auf einer Baustelle eine schwere Glasplatte auf die Beine und zerquetschte sie. Es entstand ein Blutstau, so Balleis, Blut drang ins Gehirn und so erlitt der Mann einen Hirnschaden, obwohl es sich nicht um eine Schädelverletzung handelte.

Schlaganfälle, Unfälle, viele davon Arbeitsunfälle, Hirnblutungen, Herzinfarkt - all das können Auslöser für eine Hirnschädigung sein. "In fünf Minuten kann sich auch unser Leben so ändern, dass wir Hilfe brauchen", sagt Balleis, selbst eine junge Frau. Die Bewohner sind derzeit zwischen 19 und 56 Jahre alt, zur Zeit sind davon vier Frauen. Alle Bewohner sind nur auf Zeit da, bis sie in der Lage sind, in eine Wohngruppe zu ziehen und später eventuell auch alleine im betreuten Wohnen zu leben. Im Durchschnitt beträgt die Aufenthaltszeit zwei Jahre, die Höchstdauer von drei bis fünf Jahren soll nicht überschritten werden.

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Melanie H. (rechts), hier in der Keramikwerkstatt mit Caterina Giuliani, hat große Fortschritte gemacht.

(Foto: Angelika Bardehle)

Ein Beispiel für große Fortschritte durch den Aufenthalt in Reversy ist Melanie H. (Name geändert) Die 25-Jährige ist kognitiv fit, die Folgen ihrer Hirnschädigung sind eher körperlicher Natur, sie sitzt im Rollstuhl. Ihre Geschichte kann sie selbst erzählen: Vor fünf Jahren hatte sie zunächst eine Thrombose und Lungenembolie. Sie wurde in einen "Kälteschlaf" versetzt, sagt sie. Während sie in diesem lag, erlitt sie einen Schlaganfall. "Als ich aufwachte, wusste ich nicht, was los ist", sagt sie. "Das hat echt lange gedauert, bis ich begriffen habe, was passiert ist." In den vergangenen fünf Jahren hier hat sie viel gelernt, zum Beispiel: "Alleine Haare föhnen."

"Es sind immer kleine Ziele, die wir uns vornehmen", sagt Balleis. Sie weiß noch, wie Melanie das Haare föhnen "Stück für Stück und unter Tränen" geübt hat. Doch die Selbstständigkeit ist das große Ziel in Reversy, es werden daher auch nur Patienten angenommen, die zu einem solchen Lernen in der Lage sind. Einfach ist das aber nie. "Melanie spricht inzwischen auch viel deutlicher", sagt Balleis. "Und sie ist viel ruhiger." Vor fünf Jahren redete sie noch total aufgeregt, so dass niemand sie verstehen konnte, dann regte sie sich noch mehr auf und war traurig. Auch hatte sie keinerlei Frustrationstoleranz und schrie immer vor Wut herum.

Als wir bei unserem Besuch mit ihr die Keramikwerkstatt betreten, sieht sie dort ein Stück von ihrem Rolli, das sie verloren hat. Sie flucht und wird dafür von der Heimleiterin gelobt. "Inzwischen schimpfst du, aber du bleibst ruhig. Früher hattest du Heulattacken." Die Impulskontrolle ist bei vielen Hirngeschädigten nicht mehr vorhanden. Durch geduldiges Üben kann man dies jedoch stark verbessern, so Balleis. "Man kann viel erreichen", sagt sie. "Das Leben geht weiter." Melanie ist inzwischen übrigens auch Wohnheimsprecherin und verwaltet die Geburtstagslisten in ihrem Computer. Jeden Donnerstag kommt eine ehrenamtliche Helferin von der Nachbarschaftshilfe Grünwald mit einem Kuchen. Wer in der Woche davor Geburtstag hatte, wird dann besonders gefeiert. Geschenke gibt es aber nicht, ein Geschenk bekommt jeder erst zum Auszug, verrät Melanie.

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Täglich finden in Reversy, in das die Menschen nach der klinischen Reha kommen, Gruppen mit kreativ-gestalterischer, handwerklicher, kultureller, psychosozialer oder alltagspraktischer Ausrichtung statt. Jeder Patient soll sich diese Termine selbst merken und selbständig erscheinen. Im Mittelpunkt steht, dass der Einzelne größtmögliche Fortschritte erzielt und wieder am Arbeitsleben, zum Beispiel in einer Werkstatt für behinderte Menschen, teilnehmen kann. Melanie hat schon einen Arbeitsplatz in der Spezialwerkstatt für Menschen mit erworbener Hirnschädigung der Stiftung Pfennigparade, einem Münchner Rehabilitationszentrum für körperbehinderte Menschen, zu der Reversy gehört. Sie wartet nun nur noch auf einen Platz in einer passenden Wohngruppe, dann zieht sie um.

Spenden werden in dem Wohnheim für besondere Therapien verwendet. So wird die Hundetherapie davon finanziert ebenso wie kleine Ausflüge, etwa zum Oktoberfest.

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