Sport:Vor den Adlern flogen die Hansln

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Stelzers letzter Sprung liegt mehr als ein halbes Jahrhundert zurück (Foto: Angelika Bardehle)

Lange vor den heutigen Rekordweiten stürzten sich der Oberhachinger Johann Stelzer und seine Freunde in den Fünfzigerjahren wagemutig ins Tal

Von Michael Morosow, Oberhaching

Wie Adler im Gleitflug schweben sie ins Tal. Unter ihren Körpern und den ein "V" bildenden Skier staut sich der Fahrtwind zu einem Luftpolster, das sie möglichst lange tragen soll, am besten zu einer Rekordweite, wie sie vor einem Jahr der Österreicher Stefan Kraft am Vikersundbakken in Norwegen erzielte hat, als er mit 253,50 Metern einen neuen Skiflugweltrekord aufstellte.

Seit Freitag wetteifern die Besten ihrer Zunft bei der Skiflug-Weltmeisterschaft auf der Heini-Klopfer-Skiflugschanze in Oberstdorf um Punkte, Weiten und Platzierungen. Es wird wieder ein Spektakel werden mit Tausenden Zuschauern an der Schanze und Millionen vor dem Fernseher.

Arme vor und die Skier geschlossen: Wenn Johann Stelzer sprang, kamen die Zuschauer in Scharen zur Sprungschanze in Kreuzpullach. (Foto: privat)

Auch Johann Stelzer wird sich den Wettkampf nicht entgehen lassen. Der Oberhachinger ist ein Fachmann auf diesem Gebiet, sieht auf Anhieb, ob der Absprung geglückt ist, ob ein Springer zu flach liegt und so der Tragflügel aufbricht, den Körper und Skier im Idealfall bilden. Stelzer war selbst einmal Skispringer.

Die Lokalmatadore der Sprungschanze

Zu einer Zeit aber, da nicht Institute und Sportwissenschaftler an biomechanischen Details feilten und im Windkanal nach der idealen Aerodynamik gesucht wurde. Stelzer, der einen Karosseriebau-Betrieb in München führte, ist heute 89 Jahre alt, was man nur schwer glauben kann angesichts seiner Spannkraft und geistigen Fitness.

Die mühsam in den Hang geschlagene Schanzenanlage hat sich die Natur seit langem zurückgeholt. (Foto: privat)

Sein letzter Sprung liegt mehr als ein halbes Jahrhundert zurück, von seinen Heldentaten wissen nur noch wenige im Ort. Stefan Schelle gehört dazu. "Den Hans Stelzer gibt es noch, und der ist auch noch fit", weiß Oberhachings Bürgermeister. Er war einer von den "acht bis zehn Hansln" aus der Gemeinde, die sich damals als Lokalmatadore die Sprungschanze, die es in Deisenhofen gab, hinab stürzten.

Eine der letzten Augenzeuginnen ist sein größter Fan gar und trägt an diesem kalten Januartag heißen Kaffee auf den Tisch: Margarete Stelzer, Ehefrau seit 63 Jahren, mit der er einen Sohn hat. Sie kann sich noch erinnern an die kleine Schanze im Gleißental, die Sprünge allenfalls bis zu einer Weite von 16 Metern erlaubte. Sie weiß auch noch, wie der damalige Berg- und Winterverein Deisenhofen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue, größere Schanze in ein Waldstück bei Kreuzpullach schlug.

"Der Bauer hat uns den Hang angeboten, wenn wir selbst die Bäume schlagen", sagt Stelzer. Das taten die Burschen denn auch, und bald standen bis zu 1000 Zuschauer hinter und neben dem Auslauf und feuerten ihre Favoriten an. Gewonnen hat oft der noch junge Hans, dessen Rekord bei "35 oder 36 Metern" lag - so genau weiß er die Weite nicht mehr. Die mühsam in den Hang geschlagene Schanzenanlage hat sich die Natur seit langem zurückgeholt.

36 Meter - ist doch pillepalle, könnte man meinen angesichts der Weiten, die heute erzielt werden. Aber erstens ließ die Schanze keine viel weiteren Sprünge zu; die seinerzeit besten deutschen Skispringer wie Robert Engl und Günther Meergans wären auch nur ein paar Meter weiter geflogen, der Rekord lag bei 40 Metern.

Und zweitens ist die Qualität von Ausrüstung, Training und Sportwissenschaft heute nicht zu vergleichen mit den damaligen Bedingungen: Schmale, lange, vorn in eine nach oben gebogene Spitze auslaufende Bretter aus Holz schnallte sich der junge Hans Stelzer an. Bezahlen musste er 1947 für die Skier keinen Pfennig, allerdings dafür das Auto reparieren von Otto Scheck, dem Chef von Sport Scheck.

Früher reckten sie die Arme nach vorne

"Die Zeiten sind nicht zu vergleichen", sagt der einstige Skispringer. "Schauen Sie Springer an wie den Sven Hannawald, der wog vielleicht 50 Kilogramm bei 1,85 Metern Körperlänge. Der war doch unterernährt." Sein Kampfgewicht habe bei 65 Kilogramm gelegen, damit gelang ihm auf der großen Seeberg-Schanze in Bayrischzell ein Sprung über 56 Meter, sein persönlicher Rekord. Dass sie heute fast fünf Mal so weit springen geht auf die Aerodynamik zurück. Anfangs haben Skispringer die Hände nach vorn gereckt, während sie auf der Schanze Anlauf nahmen. Im Flug ruderten sie mit den Armen, später hielten sie sie nach vorn gestreckt.

Bis zum V-Stil, der heute auf allen Schanzen etabliert ist, waren es noch Jahre. Auch Windmessungen wie heute hat es zu Stelzers aktiven Zeiten nicht gegeben, sonst wäre er nicht an einem Wettkampftag in Bayrischzell Opfer einer Windböe geworden. "Ich schlug voll auf dem Kreuz auf", erinnert sich der 89-Jährige, dessen Vater von 1945 bis 1952 Oberhachinger Bürgermeister war.

Regelmäßig brachen er und seine Freunde, die "acht bis zehn Hansln", an Wochenenden auf zu Skisprung-Wettbewerben nach Dietramszell, Bayrischzell, Schliersee, Bad Tölz oder Bad Reichenhall, wobei stets Stelzer am Steuer seines Lieferwagens saß, seine Frau auf dem Beifahrersitz und seine Sportfreunde auf der Ladefläche, über sie eine Decke geworfen, damit die Polizei sie nicht stoppte. Dass die Skispringer nach ihrer Landung wieder zu Fuß zur Schanze hochsteigen mussten, versteht sich. Am Sonntagabend fuhren sie wieder nach Hause - halb erfroren und ausgehungert. Denn Geld für eine Einkehr hatten sie allesamt nicht.

Johann Stelzer, der auch ein ausgewiesen guter Skifahrer war und sich mit dem Hubschrauber zum Mont Blanc fliegen ließ, denkt gerne an seine Zeit als Skispringer zurück, vor allem an die Wettkämpfe in Kreuzpullach. Das war eine Sensation, an den Straßen hingen Anschläge, viele Leute aus München kamen, um dem Spektakel beizuwohnen. Wer die aktuelle Skiflug-WM gewinnen wird? Da hat der Skispringer außer Dienst natürlich auch seine Meinung: "Das wird wohl der Kamil Stoch machen. Der ist derzeit der Beste."

© SZ vom 20.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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