Serie: Oh, mein Gott!:Der Rückversicherer

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Karl Stocker ist ein Spätberufener. Erst im Alter von 45 Jahren entschied er sich, seine Laufbahn zu ändern. (Foto: Claus Schunk)

Karl Stocker hat sich erst nach einem 30-jährigen Arbeitsleben bei einer Assekuranz zu einem Wechsel in den Kirchendienst entschieden. Für den 67-jährigen Diakon von Putzbrunn und früheren Ministranten hat sich damit auch ein Kreis geschlossen.

Von Martin Mühlfenzl, Putzbrunn

Es klopft an der Tür des kleinen, sehr dunklen und schmucklosen Besprechungszimmers. "Das muss der Pfarrer Moderegger sein", sagt Karl Stocker, steht auf, öffnet die Tür. Und tatsächlich steht da der Pfarrer Moderegger. Ein kurzes: "Alles im grünen Bereich, Karl?" Gefolgt von der knappen Antwort: "Alles Roger, Markus!" Dann packt der Jüngere der beiden, der Pfarrer, dem Älteren, dem Diakon, noch mit einer Hand an der Schulter und schüttelt diese leicht. Und weg ist er.

So also läuft eine Begrüßung zwischen den beiden Würdenträgern im Pfarrheim Putzbrunn. Angestaubter Katholizismus sieht anders aus. Fehlt eigentlich nur noch ein lässiges High-Five oder der Knuckle-Gruß, Faust an Faust.

Früher ging Karl Stocker wegen der Feste und der Freunde zur Kirche

Wundern würde es freilich nicht, sagt doch Karl Stocker über sich selbst und seine Anfänge in der katholischen Kirche: "Ich bin da wegen der Feste hingegangen, der Gemeinschaft, der Freunde. Und vor allem aus eigenem Antrieb." Bei den Ministranten war das damals, in der Kirche von St. Sylvester in Schwabing. Ganz nah am Englischen Garten gelegen. "Und das war einfach wunderbar, mit der Ministranten-Gruppe nach der Messe in den Englischen Garten", sagt Stocker. "Und wenn wir dann wieder sternvolldreck waren, sind wir einfach in den Bach gesprungen." Es waren unbeschwerte Jahre für einen Jungen, der die Prozessionen, Ausflüge und auch die Messen genießen konnte - und heute als etwas älterer Mann wieder kann: "Die Begeisterung für die Kirche war immer ein Teil von mir. Auch wenn ich sie als junger Mann dann nicht mehr wirklich ausgelebt habe."

Karl Stocker ist ein Spätberufener. Erst im Alter von 45 Jahren entschied er sich, seine Laufbahn zu ändern. (Foto: Claus Schunk)

Dass sich irgendwann der Kreis einmal schließen und aus dem einstigen Schwabinger Ministranten doch noch ein Mann der Kirche werden würde, hätte er damals nicht geahnt, sagt der heute 67-Jährige. Vielmehr hat ihn das Leben lange Zeit in eine ganz andere Richtung geführt: in die Sphären der weltweit größten Rückversicherungsgesellschaft, der Münchener Rück. Dort hat Karl Stocker gelernt und mehr als 30 Jahre lang gearbeitet. Der Münchner Bub, der lange das Oscar-von-Miller-Gymnasium besucht und dann mit Mittlerer Reife abgeschlossen hat, heiratete in dieser Zeit, gründete eine Familie, seine Frau bekam zwei Töchter und sie zogen irgendwann nach Waldperlach. Weiter raus, wo es damals viele junge Familien aus der Stadt hinzog. "Und ich war bei der Münchener Rück auch nie unglücklich. Es waren sogar sehr gute Jahre", sagt Stocker und legt die Hände sanft ineinander.

Irgendwann kam im Job die Sinnkrise

Er blickt auf die Hände, hebt leicht den Kopf und sagt: "Aber irgendwann kam die Sinnkrise - man fängt an zu suchen." Mit seinem seriösen schwarzen Anzug und dem leicht nach hinten gekämmten grauen Haar strahlt Stocker immer noch die Seriosität des Rückversicherers aus - bis er zu erzählen beginnt und sein jugendlicher Charme und die Wärme des Seelsorgers die Überhand gewinnen. "Ich war 45, als mir klar wurde, dass ich etwas anderes machen muss", sagt Stocker. "Die Richtung war eigentlich klar, ich habe mich bei der Diözese informiert und mit meiner Frau lange darüber gesprochen." Es war dann eine gemeinsame Entscheidung - mit einer Vorgabe: "Meine Frau hat gesagt: Mach es, aber du musst auch weiter für deine Familie sorgen können", sagt Stocker.

Der Weg vom Zivilisten in ein Weiheamt der katholischen Kirche ist ein weiter, steiniger, herausfordernder - und mit fünf Jahren ein schier endlos langer. Kern der Ausbildung ist das theologische Fernstudium an der Universität Würzburg, hinzu kommen zahllose Praktika und Kurse in der Diözese sowie ein Studium im Bereich Kirchenverwaltung an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Benediktbeuern. "Ich habe ja nebenher immer gearbeitet. Irgendwann habe ich mir dann gesagt, setz dich jeden Abend zwei Stunden hin, dann packst du es", erzählt Stocker.

Und so ist es dann auch gekommen: Im Jahr 2002 hat er durch Friedrich Kardinal Wetter im Münchner Dom seine Weihe zum Diakon erhalten, von 2003 bis 2011 war er hauptamtlicher Diakon in der Pfarrei Zu den Heiligen Engeln in Giesing. Seitdem ist er Seelsorger für den Pfarrverband Vier Brunnen mit St. Stephan in Putzbrunn, St. Ulrich in Grasbrunn, St. Stephanus in Hohenbrunn und den Ottobrunner Pfarreien.

Die Weihe zum Diakon war eine Rückkehr zu den Menschen

Für Stocker war die Weihe zum Diakon so etwas wie die "Rückkehr zu den Menschen": "Das war es, da habe ich gemerkt, was mir in meinem alten Beruf wirklich gefehlt hat - der direkte Kontakt." In Putzbrunn hat er den schon mit den Jüngsten der Gemeinde. Bei den Taufen, die zu seinem Aufgabenbereich gehören, wie auch beim Religionsunterricht in der Grundschule. Als Missionar aber will sich der Diakon nicht verstanden wissen: "Glaube ist etwas sehr Persönliches. Ich bin froh, dass ich ihn in meiner Kirche leben kann - aber jedem steht es frei, ob und wie er glaubt." Vielleicht, sagt Stocker, sei es für ihn auch hilfreich, in seinen Gemeinden so viele vielfältige nd auch herausfordernde Aufgaben zu haben - denn natürlich hadere er auch mit seiner Kirche. "Als ehemaliger Rückversicherer muss ich mich auch in meinem Glauben immer wieder rückversichern", sagt er und lacht.

Wann er und worüber er zweifle? Diakon Stocker behält diese Überlegungen lieber für sich. "Ich weiß, es gibt Defizite. Aber ich handle lieber, bin für die Menschen da, kümmere mich", sagt er. "Und ich habe ein Grundvertrauen in Gott." Ein jeder, der Stocker im typisch modernen Kirchenzentrum in Putzbrunn - rote Pflastersteine, weiße Wände - aufsucht, soll hier ein offenes Ohr finden. "Auch außerhalb der Bürozeiten. Das ist halt so", sagt Stocker. "Aber ich will mich nicht aufmandeln. Manchmal ist es auch gut, einfach nur zuzuhören."

Manchmal ist Rom auch weit weg

Jedem? Was sagt Stocker etwa einem homosexuellen Paar, das von ihm getraut werden möchte? "Ich kann nicht einfach sagen: Klar, das machen wir. Denn Rom sagt etwas anderes." Aber Rom ist manchmal auch weit weg: "Ich würde auch nicht gleich nein sagen und sie vor die Tür setzen. Ich würde sie herein und zum Gespräch bitten." Und manches, sagt der Diakon, erledige sich eh von selbst: Er frage ja Gläubige beim Abendmahl auch nicht, ob sie geschieden seien: "Nur weil dogmatisch vorgeschrieben ist, dass Geschiedene die Hostie nicht erhalten dürfen."

Unkompliziert müsse der Umgang mit Menschen sein - nicht so verbissen: "Dann erfüllt es einen auch. Und ich habe mit meinem Beruf die Abrundung meines Lebens gefunden." Und mit Pfarrer Moderegger einen, der auch den unkomplizierten Umgang pflegt. Ein junger Geistlicher und ein schon etwas älterer Diakon, verbunden im Geiste und der sehr praktischen Arbeit in gleich mehreren Gemeinden. "Best Buddies", könnte man fast sagen - und darauf einen Knuckle-Gruß.

© SZ vom 07.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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