SZ-Schulratgeber:Wechsel-Stimmung

SZ-Schulratgeber: Lernfrust ist in dem Landkreis mit der bayernweit höchsten Übertrittsquote ein großes Thema.

Lernfrust ist in dem Landkreis mit der bayernweit höchsten Übertrittsquote ein großes Thema.

(Foto: Peter Widmann/Imago)

Nirgendwo ist die Übertrittsquote höher als im Landkreis München: Nach der Grundschule gehen 61,5 Prozent der Kinder aufs Gymnasium. Doch dem Druck des G 8 halten viele schon in der sechsten Klasse nicht mehr stand.

Von Sabine Wejsada

Der Druck des G 8 schlägt in der sechsten Klasse zum ersten Mal so richtig durch, und das gleich in mehrfacher Hinsicht: Wenn die zweite Fremdsprache ansteht und Kinder, die vielleicht schon mit der ersten schwer belastet sind, noch mehr Vokabeln lernen müssen, geht einem nicht geringen Teil der Gymnasiasten ganz schnell die Luft aus.

Nicht selten wird dann in manchen Familien bereits zum Zwischenzeugnis die Reißleine gezogen, um die Tochter oder den Sohn nicht noch weiter zu frustrieren und zu stressen. Runter vom Gymnasium und rauf auf die Realschule. Im Februar des zweiten G 8-Jahres, wenn es für die Kleinen schlechte Noten hagelt, häufen sich an den fünf bestehenden Realschulen im Landkreis München die Anfragen von Eltern, ob für das gebeutelte Kind ein Wechsel möglich ist.

Nirgendwo in der Region ist die Übertrittsquote aufs Gymnasium so hoch wie im Landkreis München: 61,5 Prozent der Buben und Mädchen wechseln nach der vierten Klasse auf ein Gymnasium. 19,6 Prozent gehen auf die Realschule, 17,5 Prozent der Kinder besuchen die Mittelschule. Das G 8 allerdings beschert vor allem den Realschulen ein hohes Maß an "Rückläufern".

Leicht fällt es den Rektoren nicht, diese gleich noch zum zweiten Halbjahr in der sechsten Klasse aufzunehmen, wie sie unisono sagen. "Unterm Jahr können wir nur in Härtefällen etwas tun", versichert Christian Ceglarek, Leiter der Realschule in Neubiberg, die aktuell knapp 890 Kinder und Jugendliche besuchen. Wenn etwa zu den schlechten Zensuren des Gymnasiasten noch anderes kommt: Mobbing zum Beispiel oder der Umstand, dass das Kind bereits die Sechste wiederholt hat. Dann könne man eine Ausnahme machen. In den folgenden Jahrgangsstufen mache sich der Rücklauf vom G 8 weiterhin bemerkbar, so Ceglarek.

Ähnlich äußern sich seine Kollegin von der Therese-Giehse-Realschule in Unterschleißheim und die Kollegen in Aschheim, Ismaning und Taufkirchen. Nach den Worten von Wolfgang Robl, Leiter der Andreas-Schlemmer-Realschule Ismaning, kommen 30 bis 40 Schüler per anno vom Gymnasium; dieser Rücklauf erstreckt sich laut Robl auf alle Jahrgangsstufen.

"Manche Kinder und Jugendliche kommen durchaus mit Frust an unsere Schule" - und deswegen halte man in Ismaning "niederschwellige Angebote" vor. Zum Beispiel den "Nachdenkraum". Bevor ein Schüler einen Verweis bekommt, wird er zunächst in eben jenes Zimmer geschickt, wie Robl schildert: Ausgestattet mit einem an der Schule eigens entwickelten Reflexionsblatt, soll sich das Kind oder der Jugendliche unter Aufsicht von jeweils einem Lehrer oder des Jugendsozialarbeiters der Frage nähern, warum er den Unterricht gestört oder sich unbotmäßig verhalten hat. "Das funktioniert ganz gut", sagt Robl. Die Zahl der Verweise sei in den vergangenen Jahren zurückgegangen.

61,5 Prozent

Die Übertrittsquote aufs Gymnasium im Landkreis München ist die höchste in der Region. Nur im Kreis Starnberg drängen fast so viele Kinder nach der vierten Klasse aufs Gymnasium (57,3). In Erding liegt die Quote bei 33,7 Prozent. Im Kreis München gehen 19,6 Prozent auf die Realschule, 17,5 Prozent der Kinder besuchen die Mittelschule.

Ebenso wie im vergangenen Herbst rechnet der Schulleiter für den September wieder mit vier Eingangsklassen. Die aktuell 580 Schüler stammen aus Ismaning, Unterföhring und Garching, den Kommunen, die sich zum Zweckverband für die Realschule zusammengeschlossen haben. Mit etwas Sorge blickt Robl auf die Eröffnung des neuen Ismaninger Gymnasiums. Bereits im neuen Schuljahr sollen die ersten Übergangsklassen gebildet werden. Dieses dürfte nach seinen Worten die ohnehin bestehenden "Herausforderungen als Stadtrandschule" noch vergrößern.

Gerade im Landkreis München, wo die Übertrittsquote aufs Gymnasium bei 61,5 Prozent liegt, also fast zwei Drittel der Viertklässler nicht zuletzt auf Geheiß ihrer Eltern versuchen, auf dem direkten Weg zum Abitur zu kommen, müssen die Realschulen ihr Profil schärfen: Ganztagesbetreuung, Tutorenprogramme, Bläserklassen, Theater und Tanz, Schulsozialarbeit und vieles mehr.

In Ismaning gibt es zum Beispiel das Doppelstunden-Prinzip - "zur Entschleunigung", wie Schulleiter Robl sagt. Dies schaffe viel mehr Lernruhe, die Schüler hätten nicht sechs verschiedene Fächer an einem Tag und müssten dementsprechend auch weniger Hausaufgaben erledigen. Darüber hinaus brauchen Kinder, die die Andreas-Schmeller-Realschule besuchen, keine Bücher mehr in den Unterricht zu schleppen. Im Fachraum steht die Literatur bereit. Die Schüler können sich besser organisieren und vorbereiten, wenn die Bücher am heimischen Schreibtisch bleiben können.

Während andernorts in Bayern die Anforderungen des Turbo-Abiturs so manche Eltern davon abhält, ihre Kinder mit einem Notendurchschnitt von 2,33 oder besser im Übertrittszeugnis aufs Gymnasium zu schicken, und sie sich für die Realschule entscheiden, bleibt dies im Landkreis München eher die Ausnahme. Einen Versuch ist das Gymnasium nicht nur wert, es ist fast schon Pflicht, dass das Kind "in unserer Region nach der vierten Klasse das Gymnasium besucht", wie Bernhard Vidoni, der Leiter der St.-Emmeram-Realschule in Aschheim, mutmaßt. Er spricht vom "sozialen Druck", dem die Eltern, die freilich alle das Beste für ihr Kind wollten, ausgesetzt seien: "Ich nenne das gerne eine stärkere Ausschöpfung der Begabungsreserve", sagt der Rektor schmunzelnd.

Vidoni erwartet für diesen September erneut die Bildung von drei fünften Klassen an der Aschheimer Realschule, die aktuell 540 Kinder und Jugendliche besuchen. Er und sein Kollegium setzen auf die Schülermitverantwortung: So gebe es "Hausaufgaben-Experten", also Acht- bis Zehntklässler, die zu Schuljahresbeginn ausgebildet werden und Jüngeren bei Erledigen der Arbeiten helfen, Streitschlichter, Tutoren und "Medienwarte". Letztere kennen sich mit der Bedienung von Beamern und Laptops in den Klassenzimmern aus und unterstützen die Lehrer. "Wenn man Schülern Verantwortung gibt, dann wachsen sie", weiß der Aschheimer Rektor zu berichten.

Karin Lechner, im vierten Jahr Leiterin der Unterschleißheimer Realschule, setzt ebenfalls darauf. An ihrer Schule gibt es seit diesem Jahr keine Extemporalien mehr, die Fünft- bis Zehntklässler müssen keine Stegreifaufgaben mehr fürchten, nach dem Motto: "Stifte raus, heute will der Lehrer wissen, ob ihr was gelernt habt." Lechner nennt das "angstfreie Schule" mit angesagten Leistungsnachweisen. Das komme sehr gut an, steigere die Motivation, berichtet die Schulleiterin, und schule die Kinder gleichzeitig im Übernehmen von Verantwortung. Das Datum des Tests ist bekannt, das Lernen darauf kann sich jeder einteilen. "Im Erwachsenenleben gibt es später keine unangekündigten Prüfungen mehr", so Lechner. Warum also die Schüler mit so etwas traktieren?

An der Realschule wird es im Herbst wieder vier Eingangsklassen geben; insgesamt besuchen aktuell mehr als 710 Kinder und Jugendliche die Schule. 2016, wenn das neue Schulhaus fertig ist, kann man in modernster Umgebung weiter "Talente fördern", wie Schulleiterin Lechner die Arbeit in Unterschleißheim beschreibt.

Besonderes Talent wird an der Walter-Klingenbeck-Realschule in Taufkirchen gefördert, einer Eliteschule des Fußballs. Mit 935 Kindern und Jugendlichen ist sie die größte Realschule im Landkreis und setzt nach den Worten von Rektor Rudolf Galata auf offene Unterrichtsformen: Doppelstunden, Freiarbeit in Gruppen oder allein, und das nicht nur im Klassenzimmer, sondern "auf dem Marktplatz davor". Das komme sehr gut an, sagt Galata, der mit erneut sechs fünften Klassen plant und sich selbst als einen Schulleiter bezeichnet, der "wann immer es geht, Kinder aufnimmt, die vom Gymnasium kommen".

Wer es auf dem Turbo-Gymnasium nicht schafft, muss die Hoffnung nicht fahren lassen: Mit einem Realschulabschluss bieten sich alle Möglichkeiten, die allgemeine Hochschulreife doch noch zu erreichen. An der Fachoberschule steht nach der zwölften Klasse das Fachabitur; wer die FOS 13, also eine weitere Klasse, besucht und zusätzlich mindestens ausreichende Kenntnisse in einer zweiten Fremdsprache nachweisen kann, erwirbt das allgemeine Abitur. Die Rückläufer haben dafür nur länger Zeit, gehen nicht den direkten, aber vielleicht "den weniger schmerzhaften Weg", wie Galata sagt.

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