Kriegsende im Landkreis:Kalkeier, Kaugummi und ein Karabiner

Pullachs Gemeindearchivar Erwin Deprosse erinnert sich an das Kriegsende, das er als 14-Jähriger erlebt hat.

Von Konstantin Kaip, Pullach

Dass der Krieg zu Ende war, das wusste man in Pullach bereits gut eine Woche vor der offiziellen Kapitulation am 8. Mai 1945. "Es war der 30. April, und es war Montag", erinnert sich Erwin Deprosse. Der heutige Gemeindearchivar war damals 14 und saß mit seiner Familie wie viele Nächte zuvor im Luftschutzbunker des damaligen Ortsteils Bad Pullach in einem Nagelfluhstollen an der Habenschadenstraße. Von fern, erzählt Deprosse, konnte man Gewehr- und Maschinengewehrfeuer hören, aus Baierbrunn, wo sich eine SS-Einheit einen Kampf gegen amerikanische Soldaten lieferte, die mit Panzern aus dem Forstenrieder Park vordrangen. Dann wurde es still, und als Deprosse mit seinen Freunden später auf die Straße ging, sah er gegenüber vom Heilig-Geist-Brunnen, an der damaligen Polizeistation, einen Jeep. Darin saßen amerikanische Soldaten und ein älterer ortsansässiger Herr, den man vorher zum sogenannten Hilfspolizisten gemacht hatte. Der habe die Buben mit ernster Miene angeschaut, erinnert sich Deprosse, und die Warnung ausgesprochen, die das Kriegsende in der Gemeinde endgültig besiegelt hat: "Tut's ja alle Waffen abliefern, des fei ernst."

"Neugierig wie wir waren", erzählt Deprosse, "sind wir natürlich länger um den Jeep herumgestanden. Und dann sind wir ausgeschwärmt, um die Neuigkeit zu verbreiten, dass die Amerikaner jetzt in der Habenschadenstraße sind." Die Neugier der Pullacher Buben hat letztlich Schlimmeres verhindert. Denn später, erzählt Deprosse, berichtete ein Tapeziermeister, was passierte, als der Jeep davonfuhr: Zwei deutsche Soldaten sollen hinter dem Brunnen hervorgekommen sein und geschimpft haben, dass sie nicht zum Schuss gekommen seien, weil die Jugendlichen sich um das Fahrzeug gruppiert hatten. "Was meinen Sie, was passiert wäre, wenn die aus dem Hinterhalt geschossen hätten, wo doch überall weiße Fahnen waren?", fragt Deprosse rhetorisch.

Kriegsende im Landkreis: Bilder vom Kriegsende in Pullach: die zerbombte Industrie in Höllriegelskreuth.

Bilder vom Kriegsende in Pullach: die zerbombte Industrie in Höllriegelskreuth.

(Foto: Gemeinde Pullach)

Dass den Pullachern erbitterte Endkämpfe mit unnötigen Opfern in den allerletzten Kriegstagen erspart blieben, ist auch der Einsicht von Gustav Lichtenberg zu verdanken. Der war, wie Deprosse erzählt, Führer des "Volkssturms", den man aus den übrig gebliebenen jungen und älteren Männern in der Pullacher Reichssiedlung an der Heilmannstraße gebildet hatte. Einen Tag bevor die Amerikaner kamen habe Lichtenberg beschlossen, dass es keinen Sinn habe, diese Leute zu opfern, und die Abteilung aufgelöst, berichtet Deprosse. "Es ist aber noch Stoff da", soll Lichtenberg zu seinen Leuten gesagt haben, als sie ihre Waffen niederlegten - gemeint waren die Vorräte an alkoholischen Getränken. "Ich weiß von einem jungen Burschen, der sich einen Rausch angetrunken hat und noch besoffen war als die Amerikaner kamen", sagt Deprosse.

Blutig endete der Einmarsch der GIs nur für einen Ortsansässigen: Den Ortsgruppenleiter der NSDAP, Heinrich Gradl. Im Sommer 1944 hatten 100 amerikanische Flieger Pullach gezielt angegriffen und einen Bombenteppich über Höllriegelskreuth abgeworfen, wo die Firma Linde und die Elektrochemischen Werke angesiedelt waren, wichtige Zulieferer der Raketenproduktion. Bei dem Angriff gab es 30 Tote, die meisten waren Nachbarn aus den anliegenden Häusern, berichtet Deprosse. Unter den Opfern waren aber auch acht russische Zwangsarbeiterinnen, die sich, statt in den Wald zu fliehen, in einem Splitterschutzgraben auf dem Industriegelände verschanzt hatten, den eine Sprengbombe traf. Im Zuge dieser Luftangriffe wurde ein Flugzeug an der Stadtgrenze abgeschossen. Als man sah, wie der Pilot mit dem Fallschirm absprang, seien drei Männer von der NSDAP dorthin gefahren, unter der Leitung von Gradl, und hätten den Soldaten exekutiert. "Das war ganz klar ein Kriegsverbrechen", sagt Deprosse. Wer den Piloten erschossen habe, sei nicht bewiesen. Es habe aber bald geheißen, Gradl habe es selbst getan. Das, erzählt Deprosse, wussten auch die Zwangsarbeiter im Ort, die den amerikanischen Soldaten bei ihrer Ankunft sogleich davon berichteten und sie in Gradls Wohnung führten. Der Ortsgruppenleiter wurde abgeführt und im Seitner Hof erschossen. "Seine Leiche haben sie dann über die Kirchhofmauer geworfen", berichtet Deprosse.

Kriegsende im Landkreis: Deutsche Soldaten vor dem "Rabenwirt".

Deutsche Soldaten vor dem "Rabenwirt".

(Foto: privat)

Die Präsenz der Amerikaner führte allen vor Augen, dass der Krieg verloren war. Die Pullacher waren darüber "im Großen und Ganzen erleichtert", erinnert sich Deprosse. "Endlich wieder im Nachthemd schlafen", habe seine Mutter als erstes gesagt, als er ihr von dem Jeep am Brunnen berichtet hatte. Die Zeit, in denen man mit Kleidung auf dem Bett lag und auf das Brummen der Flugzeugmotoren und das Sirenengeheul wartete, um schnell wieder in den Schutzkeller zu rennen, war vorbei.

Zum Erstaunen des Jugendlichen war bei den GIs aber von Erleichterung nichts zu spüren. Eher im Gegenteil, berichtet Deprosse. Nach der Entwaffnung der Pullacher seien die amerikanischen Soldaten erschöpft auf die Betten gefallen, die sie in den Häusern des Ortes als Ruhelager hatten räumen lassen. Im Haus der Familie Deprosse an der Habenschadenstraße gab es eine große Diele, in der die Besatzer ihr Marschgepäck und ihre Waffen abgelegt hatten. Ein älterer Soldat habe dort die Ausrüstung bewacht, sagt Deprosse. Neugierig hätten er und seine Freunde sich genähert. "Wir dachten, er freut sich, aber er saß ganz gedrückt da." Mit Hilfe ihrer Englischkenntnisse aus der Schule konnten die Buben herausfinden, was ihn so bedrückte: der Mythos der Alpenfestung, den die Nazis mit Erfolg in den Köpfen der Alliierten aufrecht erhalten hatten. Es würden noch viele sehr blutige Kämpfe auf sie zukommen, sei der Soldat überzeugt gewesen. "There will be much blood, much blood . . .", soll er gesagt haben.

Brenzlig wurde es dann am nächsten Morgen, erzählt Deprosse - wegen seines ungestümen Großvaters. Am 1. Mai sei Schnee gefallen, die Amerikaner hätten einen Marschbefehl bekommen und sich zur Abfahrt bereit gemacht. Auf der Ladefläche eines Trucks habe sein Großvater einen GI entdeckt, der doch tatsächlich seine gute Steppdecke umgeworfen hatte, und sie zornig von den Schultern des verblüfften Soldaten gerissen - "zum Glück in dem Moment, als der Laster gerade losfuhr". Triumphierend sei der Großvater dann mit der Decke ins Wohnzimmer marschiert, wo allerdings seine eigene Steppdecke noch lag. "Es war die vom Nachbarn, aber der hat sich gefreut."

Glück hatte die Familie auch nach einer Razzia, bei der die Besatzer die Häuser nach US-amerikanischen Waren absuchten, die damals im Schwarzhandel kursierten. "Ich hatte drei Packerl Kaugummi im Nachtkasterl", erinnert sich Deprosse, "das haben sie zum Glück nicht aufgemacht." Weil sein Schatz auch künftig unentdeckt bleiben sollte, beschloss er, ihn im Dachstuhl zu verstecken. Dort fand er dann eine Zigarrenkiste, voll mit Munition - "etwa 100 Patronen in Ladestreifen". Bei der weiteren Suche entdeckte Deprosse auch das dazu passende Gewehr, unter dem Dachbalken in eine Decke gewickelt. Auf dem Kolben des Karabiners waren die Buchstaben EWP eingekerbt, erinnert er sich. Aufgeregt habe er die Waffe seinem Vater gezeigt, der ihn über die Bedeutung der Buchstaben aufgeklärt habe: Sie standen für die "Einwohnerwehr Pullach", die nach dem Ersten Weltkrieg zu Zeiten der Räterepublik gegründet und später verboten wurde. Der unbekannte Vorbesitzer des Hauses hatte die Waffe dort versteckt. Als es dunkel war, erzählt Deprosse, habe er den Kolben abgesägt und das Gewehr samt Munition in den Kanal geschmissen.

Unbemerkt von den GIs konnte Deprosse auch die in Kalk eingelegten Eier der Familie verstecken. Dass die Amerikaner genug von Ham and Eggs in Dosen hatten und deshalb ganz wild auf richtige Eier waren, hatte bereits vor ihrem Eintreffen im Ort die Kunde gemacht. Deshalb brachte Deprosse wie viele Pullacher die Gläser mit den Kalkeiern im Luftschutzkeller in Sicherheit. In seinem Haus lebte damals auch eine Mieterin aus England, erinnert sich der Archivar. Die habe sich jedoch geweigert, ihm ihre Eier mitzugeben. Die Soldaten seien Gentlemen, soll sie gesagt haben. Sie würden nicht einfach die Eiervorräte wegnehmen. "Am Ende haben wir unsere Eier behalten, und ihre waren weg", erzählt Deprosse. "Dann waren sie natürlich die damn yankees", berichtet er und lacht. "Englische Gentlemen", soll die empörte Mieterin geklagt haben, "hätten so etwas nie getan."

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