Pullach:Findling ohne Worte

Isolation trotz Kommunikation: In der Inszenierung von Roberto Ciulli zeigt das Theater an der Ruhr im Pullacher Bürgerhaus ein bewegendes Sprechstück über Kaspar Hauser

Von Franziska Gerlach, Pullach

Vor der Mülltonne liegt ein Mensch, wie ein Baby im Mutterleib hat er die Beine an den zierlichen Körper gezogen, ganz zerzaust ist er, und wie der echte Kaspar Hauser, der 1828 nach Jahren der Gefangenschaft in völliger Isolation wie aus dem Nichts in Nürnberg auftaucht, beherrscht auch der Kaspar in Peter Handkes gleichnamigem Schauspiel nur einen einzigen Satz: "Ich möchte ein solcher werden, wie einmal ein anderer gewesen ist."

Es ist ein Kaspar in unförmigen Hosen und Turnschuhen, gespielt von einer Frau, die diesen Satz zunächst mehr ausatmet als spricht, ihn wieder und wieder ausstößt, sich an ihm festbeißt, dem Publikum im Pullacher Bürgersaal die Worte entgegen schreit, als ließe sich dadurch die Angst verjagen.

Pullach: Bewegend und intensiv: Die Aufführung über Kaspar Hauser im Bürgerhaus von Pullach.

Bewegend und intensiv: Die Aufführung über Kaspar Hauser im Bürgerhaus von Pullach.

(Foto: Claus Schunk)

Das Theater an der Ruhr hat seit der Premiere 1987 nichts an der Inszenierung von Roberto Ciulli geändert, in mehr als 30 Ländern hat das Ensemble seine Version des Sprechstücks aufgeführt. Die Geschichte des mysteriösen Findlings, wonach Kaspar Hauser der Erbprinz von Baden gewesen sein soll, hat der junge Handke seinerzeit nicht weiter vertieft. Im Aufwind der Studentenbewegung, deren Groll sich neben dem Establishment bekanntermaßen auch gegen die Schlagzeilen der Bild-Zeitung richtete, erhebt der gebürtige Österreicher doch lieber die Sprache und das ihr innewohnende Gesellschaftssystem zum Thema, als er das Stück Ende der Sechzigerjahre schreibt. "Du brauchst häusliche Sätze, Sätze als Einrichtungsgegenstände. Sätze, die Luxus sind. Sätze, die du dir eigentlich sparen kannst", belehren drei Männer in schwarzen Anzügen den Kaspar zu Beginn des Stückes. Und die soziale Kälte, mit der die "Einsager" den Findling zurichten, ihm in den Ohren rumfummeln, ihn waschen, ankleiden und schminken, zieht bis in die Zuschauerränge hinauf, in denen nach der Pause einige Plätze frei bleiben. Was Handke mit dieser Sozialisierung durch die Sprache bezweckt hat, ist gewiss nicht leicht zu fassen - vielleicht gerade weil der Erziehungsversuch so schmerzhaft ist. Wie kleine Fallbeile sausen die Worte auf Kaspar nieder, malträtieren das liebesbedürftige Geschöpf, das da auf dem Boden liegt oder in die Äste eines Baumes flüchtet, wenn es gar nicht mehr auszuhalten ist. Inmitten von Menschen, inmitten von Sprache, durchlebt Kaspar noch einmal die Qualen der Isolation, selbst in einem Handkuss widerfährt ihm nichts als Abscheu. Nun sitzt er auf einem Schrank und weiß so gar nicht, was er mit seiner neu erworbenen Sprachkompetenz anfangen soll. "Die Holzscheite knacken, die Knochen knacken", sagt er. In ihrem Spiel transportiert Maria Neumann in diesem Moment die Lustlosigkeit eines Schülers beim Konjugieren von Verben. Zugleich ist da diese ungeheure Zerbrechlichkeit, mit der sie den Kaspar ausstattet - den Unbedarften, der nicht zu verstehen scheint, wie er in diese sterile Gesellschaft geraten konnte, und im Grunde wahrscheinlich einfach nur dazugehören will.

Pullach: Beeindruckende Inszenierung: In mehr als 30 Ländern hat das Ensemble Roberto Cuillis Version des viel beachteten Sprechstücks schon aufgeführt.

Beeindruckende Inszenierung: In mehr als 30 Ländern hat das Ensemble Roberto Cuillis Version des viel beachteten Sprechstücks schon aufgeführt.

(Foto: Claus Schunk)

Aber auch die Leistung der Einsager ist hervorragend. Mit phonetischer Präzision sagen sie ihre Texte auf, jonglieren mit Konjunktionen und Tempora, nicht einmal stolpern sie über die komplizierten Sprachspiele, die Handke sich ausgedacht hat, und wenn, dann merkt es der Zuschauer nicht. Die beklemmende Aktualität von Kaspar - der unbeholfene Umgang mit dem Fremden, die verordnete Integration - spürt man sehr deutlich. Und wie sich im zweiten Teil des Stückes zeigt, sind dazu noch nicht einmal Worte nötig. Denn außer Kaspar, der im goldenen Kleid in der Mülltonne steht, spricht niemand mehr. Es werden Äpfel gegessen und über die Bühne gepfeffert, ein Mann schickt einen barbarischen Schrei hinterher. Ansonsten dominiert nur das monotone Klacken von Ledersohlen auf dem Boden die Szene.

Das Ensemble zeigt in Pullach, wie gut Schauspiel auch ohne Sprache auskommen kann. Der Atmosphäre haftet etwas Bedrückendes an, aber auch eine gewisse Unruhe - und die ist nur schwer zu ertragen. Man muss den Impuls unterdrücken, auf dem Smartphone nachzusehen, ob sich wenigstens dort etwas tut in Sachen sprachlicher Kommunikation. Obwohl es im Stück doch vorrangig um die Sprache einer Gesellschaft geht, deren Inhalt irgendwann, irgendwie abhanden gekommen ist, beschäftigt zwei ältere Herren eine andere Frage, als sie den Saal am Ende verlassen. "Wie wäre eine Welt ohne Sprache?", fragt der eine. "Schrecklich", sagt der andere.

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