Pullach:"Etwas zurückgeben an die Gesellschaft"

Die Pullacher Nachbarschaftshilfe übernimmt seit mehr als 30 Jahren Fahrdienste, Einkäufe und andere Tätigkeiten für Menschen, die ohne Unterstützung nicht mehr allein leben könnten. Die meisten Ehrenamtlichen sind selbst schon Rentner

Von Konstantin Kaip, Pullach

Rudolf Scheiblegger hat einen straffen Zeitplan an diesem Dienstagmorgen. Pünktlich um 8.30 Uhr steht er vor einem Mietshaus an der Wolfratshauser Straße in Pullach und öffnet die Beifahrertür seines Suzuki für Dorothea Harder. Die ältere Dame muss zum Arzt, ihr Langzeit-EKG muss entfernt werden. Auf der Jaiserstraße stockt der Verkehr, Harder wird nervös. "Des schaff ma", beruhigt sie Scheiblegger. Sie reden noch ein bisschen über die blendende Herbstsonne, die Gefahren im Straßenverkehr und den Unfall einer gemeinsamen Bekannten, dann sind sie schon vor der Arztpraxis an der Schwanthalerstraße. Harder bedankt sich und steigt aus. Nach ihrem Arzttermin muss sie noch zum Italienischkurs der Volkshochschule. Aber der ist im Bürgerhaus, wenige Meter entfernt. "Da geh' ich zu Fuß hin", sagt sie.

Rudolf Scheiblegger nimmt kein Geld, und er hat auch kein Taxameter an seinem Armaturenbrett. Der 66-Jährige fährt ehrenamtlich für die Pullacher Nachbarschaftshilfe. Der Verein bietet seit mehr als 30 Jahren Bürgern, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, einen Fahr- und Begleitservice an. Dafür gab es kürzlich eine Ehrenurkunde, die die Leiterin der Pullacher Nachbarschaftshilfe, Irene Frisch, von Landrat Christoph Göbel in Haar entgegennahm - als Ehrung für alle ehrenamtlichen Helfer im Verein, wie sie betont. Auch wenn Frisch, wie sie scherzhaft einräumt, derzeit das "größte Fossil" der Pullacher Nachbarschaftshilfe ist: Schon vor deren Gründung 1985 hat sie in Großhesselohe diese Form der Hilfe initiiert, nachdem sie als junge Frau selbst in Gips gelegen und auf fremde Hilfe angewiesen war.

Es ist dieser Geist, füreinander da zu sein, der die Pullacher Nachbarschaftshilfe seit drei Jahrzehnten trägt. Auch wenn die Helfer, wie Frisch einräumt, ein Nachwuchsproblem haben. "Wir sind alle mit der Nachbarschaftshilfe alt geworden", sagt sie. Der Verein könne neue Ehrenamtliche gut gebrauchen. Allerdings brauchen die Helfer Zeit, und die ist ein knappes Gut bei den jungen berufstätigen Leute im immer älter werdenden Pullach. Derzeit besteht die Nachbarschaftshilfe aus etwa 30 ehrenamtlich tätigen Frauen und Männern, die zirka 100 Personen regelmäßig betreuen. Fahrdienste, Einkäufe, aber auch Beratungen, Besuche, Gespräche und Spaziergänge gehören zum Programm. Wer etwas braucht, meldet sich beim Telefondienst, und Frisch koordiniert die Termine, die sie in zwei Schichten pro Tag einteilt: vormittags und nachmittags.

Rudolf Scheiblegger hat diesmal die Vormittagsschicht, insgesamt fünf Fahrten stehen auf seiner Liste. Er gehört zu den neueren Mitgliedern der Nachbarschaftshilfe und ist seit zirka einem Jahr dabei. Der gebürtige Tiroler war bis dahin Filialleiter einer Bank in Pullach, nach seiner Pensionierung wollten er und seine Frau "etwas zurückgeben an die Gesellschaft", erklärt er. Seitdem ist Scheiblegger etwa einmal pro Woche für seine Nachbarn im Dienst. "Mir geht es gut, ich bin gesund", sagt er. "Da kann ich drei, viermal im Monat einen halben Tag opfern". Geld bekommen die Nachbarschaftshelfer in Pullach nicht, nur eine Entschädigung fürs Benzin. Doch Rudolf Scheiblegger schreibt seine Kilometer nicht auf. Die 230 Euro, die er im vergangenen Jahr für die Fahrtkosten bekommen habe, habe er wieder gespendet, sagt er.

"Eine feine Sache" sei die Nachbarschaftshilfe, findet Scheibleggers nächster Kunde Wolfram Beyermann, der nach Solln zum Arzt muss. Der 87-Jährige kennt den Verein von beiden Seiten. Schließlich war er selbst 25 Jahre lang für die Nachbarschaftshilfe aktiv. Nun ist er auf sie angewiesen: Fortbewegen kann er sich nur noch mühsam, mit seinem Gehstock und gestützt von Scheiblegger schiebt er langsam einen Fuß vor den anderen. Draußen ist es herbstlich frisch, doch Beyermann trägt nur eine Strickjacke über seinem Hemd. "Wollen Sie keine Jacke mitnehmen?", fragt Scheiblegger. Der 87-Jährige winkt ab. "Ich hab mal drunt' in Großhesseloh' in den Eisenbahnerhäusern gewohnt", sagt Beyermann. "Da war's kalt."

Der 87-Jährige ist dankbar für Scheibleggers Geduld und die Selbstverständlichkeit, mit der für ihn da ist. Ohne die Helfer der Nachbarschaftshilfe und das "Essen auf Rädern", das ihn täglich versorgt, könnte der ehemalige Eisenbahner nicht mehr allein in seiner Hochparterrewohnung leben, sondern müsste ins Heim. Scheiblegger bringt ihn noch in den ersten Stock des Ärztehauses und gibt der Sprechstundenhilfe seine Karte, damit sie sich meldet, wenn Beyermann wieder abgeholt werden muss. Dann fährt er weiter in die Martinhofstraße, zu Rita Guergerian, die zur Krankengymnastik muss.

Die 79-Jährige wird von ihrem Ehemann zum Auto gebracht, der mit ihr französisch spricht. "Mein Mann ist Armenier", sagt Rita Guergerian später, sie hätten sich in Frankreich kennengelernt. Doch während der 82-Jährige noch mit dem Bus fahren kann, ist Rita Guergerian auf einen Rollator angewiesen, den Scheiblegger im Kofferraum verstaut. Sie ist froh über die Nachbarschaftshelfer, die sie jeden Dienstag und Donnerstag zur Krankengymnastik bringen und gelegentlich zum Arzt. "In meinem Alter", sagt Guergerian, "sollte man nicht mehr Auto fahren."

Um viertel nach zehn ist Scheiblegger im Haus am Wiesenweg, um seinen nächsten Klienten zur Dialyse zu bringen. Doch der Herr, den er in dem Altenheim abholen sollte, musste am Vorabend ins Krankenhaus gebracht werden. Sicherheitshalber lässt sich das die Empfangsdame noch am Telefon vom Pflegedienst bestätigen. "Sein Taxifahrer ist da", sagt sie.

Scheiblegger ist freilich mehr als das. Er fährt auch kurze Strecken, die kein Taxi bedienen würde. Abgesehen davon, dass sich viele seiner Kunden das gar nicht leisten könnten. Für den Fall, dass er mal in zweiter Reihe oder vor einer Einfahrt parken muss, hat er ein in Plastikfolie geschweißtes Schild im Auto, auf dem "Nachbarschaftshilfe im Einsatz" steht. An diesem Vormittag braucht er es aber nicht. Nachdem er Wolfram Beyermann und Rita Guergerian nach Hause gefahren hat, muss er noch Anna Schneeweiss in der Hans-Keis-Straße abholen. Sie muss zur Physiotherapie. Die 85-Jährige hatte kürzlich eine Knieoperation, nach einem Sturz auf dem Rückweg von Solln. Mit ihrer Krücke steht sie schon auf der Straße, als Scheiblegger ankommt. Sie bewundere die Männer und Frauen bei der Nachbarschaftshilfe, sagt die Frau mit dem Lockenkopf. "Früher, als ich noch konnte, war ich selbst im Altenheim und habe die Menschen dort betreut", sagt Anna Schneeweiss. "Aber jetzt bin ich halt dran."

Die Pullacher Nachbarschaftshilfe ist montags bis freitags von 9 bis 12 Uhr unter der Telefonnummer 089/12 09 26 96 zu erreichen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: