Pullach:Absurdität des Erinnerns

Pullachs Gemeinderäte sind uneins, wie sie die Opfern des Bombenangriffs vom 19. Juli 1944 - einem G. I. und neun Gefangenen - gedenken sollen

Von Konstantin Kaip, Pullach

Der 19. Juli 1944 ist ein tragischer Tag für Pullach. Bei einem verheerenden Luftangriff hinterlassen etwa 100 Flugzeuge der Alliierten einen Bombenteppich auf den Industrieanlagen von Linde und den Elektrochemischen Werken in Höllriegelskreuth. Die Konzerne sind wichtige Zulieferer der deutschen Rüstung. Bei dem Bombardement sterben neben 13 Zivilisten aus Pullach und Umgebung auch neun Zwangsarbeiterinnen aus Osteuropa, die in einem Splitterschutzgraben auf dem Industriegelände von einer Sprengbombe getroffen werden.

Es gab jedoch noch ein anderes Todesopfer in Pullach: Bei dem großflächigen Luftangriff auf München, der auch Pullach traf, waren800 Flugzeuge beteiligt, von denen die deutsche Flak einige abschießen konnte. Unter anderem eine B24-Liberator, die im Forstenrieder Park einschlug und einen Waldbrand auslöste. Drei Besatzungsmitglieder konnten vorher mit dem Fallschirm abspringen, unter ihnen der 20-jährige James M. Greene aus Texas, der an der Pullacher Gemeindegrenze landete. Seine Rettung war das jedoch nicht. Denn im Ort, damals mit der Bormann-Siedlung eine Hochburg der Nationalsozialisten, hatte man seinen Absprung beobachtet. Drei Pullacher NS-Funktionäre griffen ihn auf und erschossen den jungen Soldaten. In Pullach machte bald die Nachricht die Runde, der NSDAP-Ortsgruppenleiter Heinrich Gradl habe ihn eigenhändig niedergeschossen. Das wiederum wurde Gradl Monate später zum Verhängnis: Nach ihrem Einmarsch in Pullach am 30. April 1945 machten die amerikanischen Soldaten Gradl ausfindig, erschlugen ihn und warfen seine Leiche publikumswirksam über die Friedhofsmauer. Gradls Frau ertränkte sich daraufhin in der Isar.

Pullach, An der Hochleite, Kriegerdenkmal

Die so genannte Gefallenengedenkstätte an der Hochleite in Pullach soll umgestaltet werden. Bald soll dort auch der jüdischen NS-Opfer gedacht werden.

(Foto: Angelika Bardehle)

Die Geschichte des 19. Juli 1944 und seiner Opfer ist ein bedeutendes Kapitel der Pullacher Zeitgeschichte, das die Absurdität des Krieges verdeutlicht und zum Frieden mahnt. Erst seit diesem Sommer jedoch kann sie vollständig erzählt werden. Denn den Namen des US-Soldaten, der an diesem Tag in Pullach Opfer eines Kriegsverbrechens wurde, haben die Historiker Susanne Meinl und Markus Mooser erst vor wenigen Monaten in amerikanischen Militärarchiven ausfindig gemacht. Dabei haben sie auch seinen Sohn gefunden, der seinen Vater nie kennenlernen konnte und erst jetzt von den Umständen seines Todes erfahren hat. Damit er mehr über das Schicksal seines Vaters erfahren kann, hat Bürgermeisterin Susanna Tausendfreund (Grüne) Jim Greene und seine Familie nach Pullach eingeladen. Sie sollen an der Gedenkveranstaltung zum Volkstrauertag am 15. November teilnehmen, am 13. November wird das Geschichtsforum Pullach mit der Gemeinde im Pfarrsaal Heilig geist die Geschehnisse des 19. Juli 1944 gesondert beleuchten.

Aus diesem Anlass hat Tausendfreund am Dienstag im Gemeinderat einen Beschlussvorschlag eingebracht: Die Gemeinde möge auf dem Pullacher Friedhof, auf dem Greene und die neun osteuropäischen Zwangsarbeiterinnen vergraben waren, bis sie nach dem Krieg exhumiert und umgebettet wurden, zwei Gedenktafeln aufstellen, die an das Schicksal der Opfer erinnern. Eine für den Staff Seargant auf Englisch und Deutsch und eine für die Zwangsarbeiterinnen, mit sämtlichen Namen, Geburtstagen und Herkunftsorten. Denn im Unterschied zu den Pullacher Opfern des Angriffs, deren Namen auf der Gefallenengedächtnisstätte an der Hochleite verewigt sind, gibt es in der Gemeinde keinen Ort, der an die getöteten Zwangsarbeiterinnen erinnert. "Die Opfer des 19. Juli 1944 mahnen uns zu Frieden und Versöhnung", solle unter den schlicht gehaltenen Gedenktafeln stehen, die laut Beschlussvorlage bis November fertiggestellt werden sollten.

Pullach: Der Luftangriff am 19. Juli 1944 hinterließ in Höllriegelskreuth ein Bild der Verwüstung. Hier die Trümmer der Linde-Werke.

Der Luftangriff am 19. Juli 1944 hinterließ in Höllriegelskreuth ein Bild der Verwüstung. Hier die Trümmer der Linde-Werke.

(Foto: Archiv Gemeinde Pullach)

Im Gremium löste der Vorschlag eine lange Diskussion aus, die auch von Bedenken zahlreicher Gemeinderäte getragen wurde: Der Gemeinderat stehe bei einem "sensiblen Thema mit dem Rücken zur Wand", befand Johannes Schuster (WIP). Die Einladung und geplante Einweihung, bei der auch das US-amerikanische Konsulat beteiligt werden solle, "irritiert mich arg", sagte er. Schuster sprach sich gegen die Tafeln aus, auch weil, wie er sagte, die Namen heute niemandem mehr etwas sagten und "heute nicht mehr von Bedeutung" seien. Auch Andreas Most (CSU) zeigte sich "irritiert über den Fortschritt, den das Thema in der Sommerpause gemacht hat". Statt "zwei singuläre Ereignisse herauszustellen" solle man lieber aller Opfer gedenken. Gegen die Gedenktafel für Greene war auch Odilo Helmerich (SPD). Anders als die Zwangsarbeiterinnen sei dieser an den Bombenangriffen auf Zivilisten beteiligt gewesen und daher auch Täter.

Einig war sich das Gremium darüber, die Gedenkstätte an der Hochleite umzugestalten, wie es schon länger geplant ist. Tausendfreund wies noch einmal darauf hin, dass dort auch die Namen der jüdischen Bürger, die von Pullach aus deportiert wurden oder Suizid begingen, angebracht werden sollen. Dies aber werde erst zum Volkstrauertag 2016 möglich sein.

In einer langen Debatte um die angemessene Form des Gedenkens plädierte Fabian Müller-Klug (Grüne) dafür, auf den Tafeln gleich die "ganze Geschichte" samt dem Ende Grasls und seiner Frau zu erzählen, um die "grausame Absurdität des Krieges" zu verdeutlichen. Alexander Betz (FDP) stimmte Tausendfreund zu, dass die Personalisierung entscheidend sei, wollte die Tafeln jedoch gleich am Denkmal an der Hochleite aufstellen lassen. Schließlich aber wurden die Befürworter von den Bedenkenträgern überstimmt. Der Gemeinderat lehnte die Gedenktafeln mit sieben zu neun Stimmen ab. Im Ortsbild bleiben die Opfer des 19. Juli 1944 also weiterhin größtenteils anonym.

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