Letzte Instanz in Haar:Internationaler Gerichtshof für Erfinder

Letzte Instanz in Haar: Verhandlungssäle in Haar.

Verhandlungssäle in Haar.

(Foto: Sebastian Gabriel)

An den Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts in Haar wird Recht gesprochen für die ganze Welt. Nach anfänglichem Unmut über den Umzug aus der Stadt haben sich die 150 Juristen an der Richard-Reitzner-Allee gut eingerichtet.

Von Bernhard Lohr, Haar

Ob aus London, Paris oder Tokio - egal, woher die Geschäftsleute oder Anwälte kommen: Sie tauchen am Empfang des Bürogebäudes in der Richard-Reitzner-Allee 8 in Haar in eine wohl vertraute Atmosphäre polyglotter Weltläufigkeit ein. Auf dem Tresen liegen für die Vielflieger neben der Süddeutschen Zeitung auch Le Monde und The Guardian zur Lektüre bereit, als befänden sie sich in einem gut geführten Hotel oder in einer Lounge am Flughafen. Auf den Gängen begrüßen sich Menschen mit "Bonjour" oder "Servus". Willkommen in der Welt des Europäischen Patentamts.

Die Organisation, die ihre Zentrale im Glockenbachviertel in der Münchner Innenstadt hat, ist ein globales Dorf. Deutsch, Französisch und Englisch sind Amtssprachen, die jeder Mitarbeiter beherrscht. 38 Vertragsstaaten tragen die 1972 in München gegründete Behörde, die über Patentanmeldungen in einem Wirtschaftsraum mit 700 Millionen Menschen entscheidet. Sobald ein Fall strittig ist, landet er neuerdings in Haar vor einer der so genannten Beschwerdekammern. 150 Juristen arbeiten dort seit Herbst vergangenen Jahres und klären im Jahr 2300 Streitfälle. Patentanwälte und Vertreter großer Unternehmen fechten dort aus, wem eine Neuerung zugesprochen wird. Es geht um Innovation und ums große Geschäft.

Letzte Instanz in Haar: Den Haar statt Den Haag? In solchen Gerichtssälen werden Patentstreitigkeiten verhandelt.

Den Haar statt Den Haag? In solchen Gerichtssälen werden Patentstreitigkeiten verhandelt.

(Foto: Sebastian Gabriel)

Dass das nun alles in einem Vorort von München verhandelt wird, stieß bei den Mitarbeitern der Beschwerdekammern zunächst nicht gerade auf Begeisterung. Im Hochhaus an der Isar herrschte phasenweise Aufruhr. Manche der Juristen der "Boards of Appeal", die bis dahin nur Stockwerke von denen getrennt arbeiteten, die Patente erteilen, sprachen von einer gezielten Degradierung. Die Leitung der Behörde beteuerte jedoch, mit der räumlichen Trennung von Patent-Genehmigung und Rechtssprechung eine überfällige Strukturreform anzugehen: mehr Effizienz und Eigenständigkeit für die Gerichtsbarkeit werde angestrebt.

Tatsächlich haben die jetzt in Haar ansässigen "Boards of Appeal" einen Präsidenten, der dem Präsidenten des Patentamts selbst nicht mehr unterstellt ist, sondern direkt dem Verwaltungsrat der Mitgliedsstaaten. Haar ist damit mehr als nur Anhängsel. Man steht selbstbewusst neben anderen Standorten in Berlin, Wien, Brüssel oder Den Haag.

The Master of Eglfing-Haar

So hat sich auch Carl Josefsson in Haar ein geräumiges Chefbüro eingerichtet. Schon auf dem Weg zum Präsidenten wird klar, dass mit dem Schweden in der Richard-Reitzner-Allee 8 ein in Stilfragen sicherer Chef das Sagen hat. Wer die Rezeption hinter sich lässt und durch die Sicherheitsschleuse mit Körperscanner geschritten ist, den jeder Besucher wie am Flughafen passieren muss, trifft an allen Ecken und Enden auf Werke renommierter zeitgenössischer Künstler. Eine Skulptur von Sylvie Fleury - ein verchromter Motorblock eines Ford Cosworth - dominiert den Eingangsbereich. Und beim Gespräch in Josefssons Büro ist dann auch bald der opulente Bildband Thema, der auf dem Tisch in einer Sitzgruppe neben der Haarer Gemeindechronik liegt. "Kennen Sie Eugen Gabritschevsky?", fragt Josefsson.

Letzte Instanz in Haar: Unabhängig vom Europäischen Patentamt in München: Der Schwede Carl Josefsson ist Präsident der Beschwerdekammern.

Unabhängig vom Europäischen Patentamt in München: Der Schwede Carl Josefsson ist Präsident der Beschwerdekammern.

(Foto: Sebastian Gabriel)

Und schon erzählt der Präsident die Geschichte, wie er an einem Flughafen einen Artikel in der Oktoberausgabe 2017 der New York Review of Books las, in dem dieser Maler als "Master of Eglfing-Haar" beschrieben wurde. Gabritschevsky (1893 - 1979) war Sprössling einer Familie russischer Wissenschaftler, er studierte Biologie und arbeitete mit Louis Pasteur und Robert Koch, bevor er an Schizophrenie erkrankte und 1931 als Patient in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar aufgenommen wurde. Dort schuf er später in drei Jahrzehnten seine von kräftigen Farben strotzenden, mitunter düster von Todesahnung durchtränkten Hauptwerke, die mittlerweile in Paris, Lausanne und New York zu sehen sind.

Auf diesen Künstler stieß also Josefsson ausgerechnet in der Phase, als er und seine Mitarbeiter sich mit dem neuen Arbeitsplatz anfreunden sollten. Er liegt keine 400 Meter entfernt von der freilich heute noch existierenden Psychiatrie in Haar. Und auch mittendrin in einem Sport- und Freizeitpark. Er fühle sich wohl in der grünen, ruhigen Umgebung in Haar, sagt Josefsson, der mit Bürgermeisterin Gabriele Müller und geladenen Gästen im Herbst intern Einstand feierte. "Wir sind sehr gut aufgenommen worden." Auch die Mitarbeiter, von denen manche auf internen Foren in ihrem Grant über den Umzug bitterböse Kommentare zum neuen Dienstsitz neben einer Psychiatrischen Klinik posteten, seien "gut angekommen", sagt Josefsson. Wichtig ist dem Chef vor allem: "Der Umzug signalisiert einen Neuanfang." Es gehe schließlich um größere Eigenständigkeit, um Effizienz und Qualität.

Problem Bahnhof

Erschwert haben den Start in Haar widrige Bedingungen am Bahnhof. Als die Beschwerdekammern einzogen, liefen die Umbauarbeiten am nördlichen Bahnsteigzugang in Haar auf Hochtouren. Es kam zu Sperrungen und auch die Bahnen verkehrten eingeschränkt. Für die Arbeit der Beschwerdekammern, die als Gericht mit Prozessbeteiligten aus aller Welt viel Publikumsverkehr haben, war dies mehr als eine Unannehmlichkeit. "Aber das wird sich geben", sagt Josefsson. Gerade werden noch Restarbeiten erledigt, dann soll der Bahnhof zur sichtlichen Erleichterung von Josefsson ein schmuckes Bild abgeben.

Höchste Instanz

Die in Haar angesiedelten Beschwerdekammern sind die erste und letzte gerichtliche Instanz in Verfahren vor dem Europäischen Patentamt. Entscheidungen sind in den Vertragsstaaten des Patentübereinkommens unmittelbar wirksam. Der Widerruf eines Patents kann von nationalen Gerichten nicht überprüft werden. Die Mitglieder der Beschwerdekammern sind in ihrer richterlichen Tätigkeit unabhängig. In Haar gibt es 28 Technische Beschwerdekammern, die Juristische Beschwerdekammer und die Große Beschwerdekammer unter Vorsitz des Präsidenten Carl Josefsson. Zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung kann eine Kammer oder der Präsident des Europäischen Patentamts die Große Kammer anrufen. Pro Jahr gehen circa 2800 Fälle ein; im gleichen Zeitraum erledigen die Kammern etwa 2300. Um die Zahl von mehr als 9000 anhängigen Verfahren zu drücken, hat der Präsident mehr Effizienz verordnet. belo

Die Verfahren der Beschwerdekammern laufen in modern gestalteten, in Grün gehaltenen Gerichtssälen ab. Dolmetscher-Kabinen erinnern daran, dass man sich auf internationalem Parkett bewegt. 212 Mitarbeiter, überwiegend Juristen, arbeiten aktuell in Haar, 230 sollen es bald sein. Und ein weiterer Zuwachs wäre ganz nach dem Wunsch von Josefsson. Die Möglichkeit, in den Gebäuden in Haar noch zu wachsen, sei ein großer Vorteil. Größe ist für Josefsson grundsätzlich kein Problem. Wer ihm sagt, dass in seinem Haus ganz Europa ein- und ausgeht, den korrigiert er, es sei die ganze Welt.

Was die Richter in Haar entscheiden, entwickelt normative Kraft bis nach Afrika oder Asien. Was der europäische Gerichtshof in Den Haag im Strafrecht ist , ist Haar sozusagen auf dem Gebiet des Patentrechts. Nirgendwo auf der Welt seien 150 Richter unter einem Dach versammelt, die nichts anderes machten, als in Patentfragen Recht zu sprechen, heißt es selbstbewusst im Haus. Das sei einzigartig.

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