Interview zur Schulentwicklung:"Wir wollen den Ganztag"

Interview zur Schulentwicklung: Heinz Durner war Direktor des Gymnasiums Unterhaching. Dort wurden die Eltern mit Erfolg in das Schulleben eingebunden.

Heinz Durner war Direktor des Gymnasiums Unterhaching. Dort wurden die Eltern mit Erfolg in das Schulleben eingebunden.

(Foto: Claus Schunk)

Heinz Durner war Direktor am Gymnasium Unterhaching. Er hat das Konzept für Grünwald verfasst und arbeitet an dem für die künftige Schule in Unterföhring. Der Beauftragte für weiterführende Schulen im Landkreis ist sicher, dass bald alle Kinder bis zum Nachmittag gemeinsam lernen werden.

Interview von Sabine Wejsada

Heinz Durner hat eine Vision: Schule muss mehr sein als Paukerei und Zensuren. Seit 2007 ist der frühere Direktor des Unterhachinger Gymnasiums Beauftragter für weiterführende Schulen und Wissenschaft im Landkreis München. Er hat in seiner Zeit als Schulleiter das Gymnasium in Unterhaching modernisiert und das pädagogische Konzept für das im September 2014 eröffnete neue Grünwalder Gymnasium erstellt. Auch die Ausgestaltung des geplanten Gymnasiums in Unterföhring geht auf seine Überlegungen zurück: Dort soll eine Inklusions-schule entstehen, an der hörbehinderte Kinder zusammen mit nicht behinderten von der fünften Klasse bis zum Abitur gemeinsam lernen. Im Gespräch mit der SZ erklärt der 75-Jährige, wie sich die Anforderungen an das Gymnasium verändert haben und wie sich die Schulen für die Zukunft aufstellen sollten.

SZ: Herr Durner, was bedeutet Schule für Sie?

Heinz Durner: Schule ist Lebensraum, wo Kinder Freude daran haben sollen, sich anzustrengen, zu lernen. Und wo sie auch in der Anstrengung Freude haben, den Umgang mit Niederlagen lernen. Das ist für mich Schule. Und dann bin ich natürlich ein leidenschaftlicher Anhänger des Dualen Systems in Deutschland, also dem Zweiklang aus Mittelschule, die in die Berufswelt orientiert ist, und aus Gymnasium, das in die Wissenschaft orientiert ist, wo man dann die so genannten Führungskräfte für später rekrutiert.

Wie kann es gelingen, dass Kinder gerne zur Schule gehen?

Zu diesem Zweck muss man damit anfangen, den Lernprozess neu zu denken. Die Vormittagsschule, wie es sie heute gibt, ist für mich ein Produkt der Vergangenheit, des 20. Jahrhunderts, als die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eben so waren, dass die Eltern ihre Kinder vormittags zur Schule schickten und nachmittags zum Arbeiten brauchten. Ich habe das am eigenen Leib erlebt, für mich bestand Nachmittag aus der Arbeit auf dem Feld, andere Kinder mussten in Metzgereien und Bäckereien mitarbeiten. Wenn Sie sich heute die Entwicklung ansehen, dann hat sich viel geändert: das Selbstverständnis der Frauen, die Abitur machen, studieren, arbeiten, die Zusammenführung von Familie und Beruf. Da ist es nicht mehr machbar, dass die Kinder vormittags in der Schule und am Nachmittag zu Hause sind.

Ist die Vormittagsschule also ein Auslaufmodell?

Ja, die werden wir in Zukunft nicht mehr haben, davon bin ich überzeugt. Aber dann muss man den Lernprozess anders denken. Die Vormittagsschule ist eine reine Stoffvermittlungsschule, die mit sinnvollen Lernprozessen, der individuellen Förderung und einem sozialen Miteinander der Schüler nichts gemein hat. Denken Sie nur an die Integration von Flüchtlingen: Um diese Herausforderung zu schaffen, können Sie die Kinder nicht vormittags Deutsch lernen lassen und nachmittags dann in ihre Familien entlassen, wo nur ihre Muttersprache gesprochen wird. Da braucht es eine Ganztagsschule, die innovativ, kooperativ, flexibel und kreativ ist.

Was heißt das konkret?

Ich will keine gebundene Ganztagsschule, da kriege ich sogar den Widerstand meiner eigenen Tochter, sondern ich will eine Ganztagsschule, bei der für Eltern und Schüler ein Stück Freiheit bleibt, Zeit, mitgestalten zu können. Und das nach einem bestimmten Plan, mit Struktur.

Wie kann das gelingen?

Indem man am Nachmittag den Kindern Räume lässt, zum Beispiel nach 15 Uhr, wo sie etwa ins Ballett gehen können oder zu anderen außerschulischen Aktivitäten und wo es eine enge Kooperation mit den Vereinen am Ort, dem Turnverein oder der Musikschule, gibt. Da ist es vorstellbar, dass die Musikschule an das Gymnasium kommt, wie es in Grünwald der Fall ist oder wie wir es in Unterhaching gehalten haben. Nicht der Schüler braucht mit seinem Instrument zur Musikschule zu fahren, sondern der Geigenlehrer kommt in die Schule. Oder gar der Klavierlehrer.

Grünwald Jugendsozialarbeit

Die Schule soll nicht nur Lernort, sondern Lebensraum für die Schülerinnen und Schüler sein.

(Foto: privat)

Das bedeutet, dass sich an der Schule sehr viel Leben abspielt?

Das ist richtig. Allerdings ist es mir sehr wichtig, dass die Eltern oft in die Schule kommen, teilhaben.

Das Modell einer flexiblen Ganztagsschule soll für alle Kinder verpflichtend sein?

Ja. Denn jetzt haben wir es ja so, dass ein Drittel der Kinder Vormittagsunterricht hat und dann nach Hause geht; ein Drittel hat sechs Stunden am Vormittag, geht Mittagessen und hat dann noch ein, zwei Stunden Programm, und das andere Drittel hat den gebundenen Ganztag. Das ist unglaublich schwer zu organisieren. Und das finde ich auch unpädagogisch. Denn ein Teil der Schüler bekommt mehr Unterrichtsangebote als die anderen. Da fehlt das soziale Miteinander. Auch habe ich bei diesem System einen Sechs-Stunden-Vormittag, der ausgedient hat, weil er unter pädagogischen Gesichtspunkten falsch ist.

Wie sieht für Sie ein perfekter Schultag aus?

Den perfekten Tag wird es nicht geben, weil es jeder Lehrer, jede Schule anders macht. Aber auf jeden Fall muss der Vormittag bereits seine Entschleunigung haben. Zu schaffen ist die mit Wiederholungsstunden, Vertiefungsstunden oder vielleicht sogar schon mit der Möglichkeit, Hausaufgaben zu machen. Mittags sollten die Schüler eine längere Pause haben mit einem guten Essen, und dann ist es wichtig, am Nachmittag noch ein oder zwei Kernstunden wie Mathe oder Physik anzusetzen, später geht dann noch Theater und Musik. All das muss in enger Zusammenarbeit mit dem pädagogischen Personal geschehen.

Würde ein solcher Schultag auch noch Hausaufgaben beinhalten?

Ja, sicher. Es ist ein Märchen, wenn es heißt, beim Ganztag gibt es keine Hausaufgaben mehr, die der Schüler daheim erledigen muss. Die schriftlichen Hausaufgaben sollten wenn möglich in der Schule erledigt werden, aber die Vorbereitung, das Lernen ist daheim zu machen. Wenn ich vormittags nur vier Stunden habe, muss ich nicht mehr so viele Hausaufgaben für den nächsten Tag erledigen. Die Eltern müssen nach meiner Sicht am Lernprozess teilhaben, indem sie die Erledigung von Hausaufgaben begleiten.

Eltern sollen sich also nicht raushalten dürfen?

Nein, natürlich nicht. Sie haben Bedeutung für die flexible Ganztagsschule. So könnte man zum Beispiel eine Umfrage unter den Eltern starten, was sie arbeiten und ob sie die Fertigkeiten aus ihrem Beruf einbringen. Wir haben in Unterhaching beispielsweise gefragt, ob Eltern, die ein Instrument spielen, an einem Orchesterprojekt teilnehmen wollen. Am Ende waren es 56 Mütter und Väter, die mitgemacht haben. Das ist Schulfamilie.

Eltern haben nach einer aktuellen Studie im vergangenen Jahr 900 Millionen Euro für die Nachhilfe für ihre sechs- bis 16-jährigen Kinder ausgegeben. Zeigt das, dass die Schulen den Lernstoff nicht mehr vermitteln können?

Nachhilfe hat es schon immer gegeben und wird es auch immer geben. Aber auch da ist meine Erfahrung, dass es gute Möglichkeiten gibt, sich das Geld zu sparen, wenn es an einer Schule besondere Angebote gibt, wie etwa am Nymphenburger Gymnasium, wo ältere Schüler den jüngeren Nachhilfe geben. Das hat auch in Unterhaching sehr gut funktioniert, für Grünwald ist es ein Ziel. Auch dafür bietet die flexible Ganztagsschule Platz.

Interview zur Schulentwicklung: Heinz Durner war Direktor des Gymnasiums Unterhaching. Dort wurden die Eltern mit Erfolg in das Schulleben eingebunden.

Heinz Durner war Direktor des Gymnasiums Unterhaching. Dort wurden die Eltern mit Erfolg in das Schulleben eingebunden.

(Foto: Claus Schunk)

Was muss sich am Unterricht ändern?

An die Schulen werden ja viele Forderungen herangetragen: neue Lernstrukturen schaffen, die individuelle Lernförderung garantieren, die Teamfähigkeit der Kinder stärken, und bei alldem auch noch die digitale Lernwelt einbauen. Für mich ist die Digitalisierung die vierte Kulturtechnik wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Eine Unterrichtsform könnet sein: 20 Minuten Frontalunterricht, wo der Lehrer als Impulsgeber fungiert, Arbeitsaufträge an die Klasse verteilt. Danach stehen Gruppenarbeit und selbständiges Lernen an. Die Pläne für das neue Unterföhringer Gymnasium, das eine Inklusionsschule werden soll, sind da richtungsweisend: Gehörlose oder hörbehinderte Kinder können nur 20 Minuten konzentriert einem Frontalunterricht folgen, danach findet Gruppenarbeit statt. Doch wie soll das an einem Sechs-Stunden-Vormittag gehen? Gar nicht.

Braucht es für das andere Lernen auch anderen Schulbauten?

In einem flexiblen, offenen Lernsystem braucht es natürlich andere Schulen. Wir bauen ja immer noch nach den Richtlinien des 19. Jahrhunderts. So etwas geht nicht. Wer würde denn heute noch ein Krankenhaus so bauen wie vor 20 Jahren? In Grünwald ist das neue Gymnasium nach modernen Anforderungen errichtet worden, in Ismaning und Unterföhring wird man es ebenso gestalten. Die Schulen müssen so gebaut und gestaltet sein, dass sie in den nächsten 40 Jahren den modernen Schulbetrieb ermöglichen.

Klingt so, als müsste man dafür viel Geld ausgeben.

Natürlich, in den nächsten zehn Jahren wird man viel investieren müssen. Der Umstellungsprozess, der Paradigmenwechsel kostet. Ich gehe davon aus, dass der Wechsel von der Vormittags- in eine flexible Ganztagsschule eine Generation dauert. Aber diesen Schritt dorthin muss man jetzt bewusst gehen. Das habe ich auch Kultusminister Ludwig Spaenle gesagt. Sonst verlieren wir die Zukunft. Eltern, deren Kinder aktuell in Kitas und Grundschulen lange betreut und versorgt werden, werden in ein paar Jahren sagen: Herr Minister, was ist jetzt mit uns? Wir wollen den Ganztag.

Heute kommt es jedoch noch vor, dass Eltern die Ganztagsschule ablehnen?

Das hat mit der Struktur zu tun: Ich erlebe es an meinen eigenen Enkeln, acht an der Zahl. Von acht bis eins Unterricht, dann zum Teil ein nicht sehr angenehmes Mittagessen in einer Kellerkantine, und dann kommt um zwei Uhr der Sozialpädagoge mit der Trillerpfeife und beginnt mit seinem Programm. Da ist es kein Wunder, dass Kinder und auch Eltern darauf keine Lust haben. Vielmehr brauchen wird für eine sinnvolle Nachmittagsgestaltung die enge Kooperation zwischen Pädagogen und Lehrern. Grünwald ist dafür ein leuchtendes Beispiel, da wird der Unterricht, wenn nötig, begleitet von den Pädagogen.

Das sieht nach einer großen Herausforderung für alle Beteiligten aus.

Auf der einen Seite ja. Aber denken wir an die Auszubildenden, die auch keinen freien Nachmittag haben. Wollen wir, dass es also die verhätschelten Wissenschaftskinder und die nicht ausschlafenden Azubi-Kinder gibt? Nein, das kann es nicht sein.

Was wäre Ihr Wunsch für die Schullandschaft im Landkreis München?

Dass man hier Bildungseinrichtungen schafft, die in die Zukunft zeigen. Und über die man in zehn Jahren sagen kann: Wir haben die Weichen richtig gestellt.

Gilt ihr Konzept nur für die Gymnasien oder für alle Schularten?

Im Grunde ja, aber die Zeit ist noch nicht reif für alle. Sie haben Lehrkräfte und Eltern, die das in Grundschulen nicht wollen. Innerhalb von zehn Jahren wird sich das ändern. Davon bin ich überzeugt.

Unterstützt das Kultusministerium Ihre Ideen zum flexiblen Ganztag?

Ja. Minister Spaenle hat mich nach der Vorstellung meines Unterföhringer Inklusions-Konzept für eine moderne Ganztagsschule an einem Gymnasium gleich angesprochen. Dieses andere Lernen, dieser rhythmisierte Ganztag findet seinen Gefallen, die Inklusion sowieso und das Experimentieren in Schülerlaboren. Da sind wir wieder beim Thema: Schule muss Lebensraum werden. Dafür kämpfe ich.

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