Interkulturelles Training:Abschied vom Schubladendenken

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Irene Martius bietet an der VHS-Südost interkulturelles Training an. Die Teilnehmer sollen dabei Vorurteile abbauen, indem sie ihre eigenen Konzepte und Automatismen hinterfragen

interview Von Jasmin Kohl, Ottobrunn

Globalisierung, Austauschaufenthalte, Flüchtlingsströme: Unser Alltag wird immer multikultureller und wir werden umso mehr mit kulturellen Unterschieden konfrontiert. Das ist bereichernd, aber auch anstrengend, wenn man eine fremde Kultur nicht versteht und sein eigenes Wertesystem als allgemeingültig versteht. Irene Martius bietet daher seit 2008 interkulturelles Training an der Volkshochschule (VHS) Südost in Ottobrunn an, das Vorurteile abbauen und Toleranz fördern soll. In vier aufeinander aufbauenden Seminaren lernen die Teilnehmer theoretische Grundlagen von Kulturunterschieden und den Umgang mit ihnen. Am Ende können sie durch eine Prüfung ein europaweit anerkanntes Zertifikat erlangen, das ihnen interkulturelle Kompetenz bescheinigt.

SZ: Was versteht man unter interkulturellem Training und wozu braucht man es?

Irene Martius: Viele Leute wissen mit dem Begriff tatsächlich nicht richtig etwas anzufangen. Die Wissenschaft befasste sich in den Sechzigerjahren erstmals intensiver mit der "Interkulturellen Kommunikation". Erforscht wird dabei, worin sich Kulturen voneinander unterscheiden und wie diese kulturellen Differenzen zu erklären sind. Gerade in der Geschäftswelt begriff man, dass für erfolgreiche Verhandlungen im Ausland eine gewisse Kenntnis der Kultur des Geschäftspartners von Vorteil ist. Interkulturelle Schulungen für Manager international agierender Firmen sind heute an der Tagesordnung. Oft fehlt dabei der ausreichende zeitliche Vorlauf und die Trainings ähneln häufig einem "Reise-Knigge" nach dem Motto "Was darf ich auf keinen Fall tun?". Fundierte Erklärungen für kulturelle Eigenheiten fehlen dabei oft - diese möchte ich in meinen Kursen vermitteln. Die Teilnehmer sollen mithilfe des interkulturellen Trainings Ängste und Unsicherheiten gegenüber Fremden und ihrem uns ungewohnten Verhalten abbauen.

An wen richten sich Ihre Kurse?

Meine Kurse richten sich prinzipiell an alle, die sich für ihre eigene und andere Kulturen interessieren. In unserer multikulturellen Gesellschaft sind nicht nur mehr Manager mit anderen Kulturen konfrontiert. Meine Teilnehmer haben in ihrem Alltag meist mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturen zu tun: Sprachdozenten, Engagierte in der Flüchtlingshilfe, Gemeinderäte, Sozialarbeiter, Selbstständige, Lehrer und Kindergärtnerinnen. Aber auch junge Menschen besuchten meine Kurse als Vorbereitung auf ein Auslandsjahr oder einfach als Zusatzqualifizierung.

Bei Tisch fallen kulturellen Unterschiede schnell auf, in anderen Bereichen des Lebens muss man sie sich erst bewusst machen. (Foto: Bloomberg)

Was lernen die Teilnehmer in Ihren Kursen?

Der erste Kurs konzentriert sich auf die Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff und unserer eigenen kulturellen Identität, um den Teilnehmern eine Grundlage für die späteren praktischen Übungen zu geben. Wir befassen uns zum Beispiel mit der "Kulturgrammatik", die einen Versuch darstellt, verschiedene Wertesysteme zu erklären, die zu unterschiedlichen Verhaltensweisen führen können. Wir beschäftigen uns auch mit dem Umgang mit Macht, Nähe, Distanz oder Zeit. Die oft zitierte deutsche Pünktlichkeit beispielsweise hat bei uns einen hohen Stellenwert. Wer unpünktlich ist, gilt in Deutschland schnell als unhöflich. Dahinter kann jedoch auch ein kulturell bedingt anderer Umgang mit der Zeit liegen und nicht der Wille, sein Gegenüber zu verärgern.

Dann lassen sich mithilfe der Kenntnis über "Kulturgrammatik" also kulturelle Missverständnisse vermeiden?

Vermeiden lassen sie sich durch sie nicht - die "Kulturgrammatik" ist eher eine Richtlinie. Kultur ist einem ständigen Wandel ausgesetzt. Wertvorstellungen ändern sich, sind aber nicht sofort sichtbar. Das interkulturelle Training will Abstand von einem Schubladendenken à la "Amerikaner sind so - Franzosen sind so" nehmen. Vielmehr sollen die Teilnehmer besonders für die nicht sichtbaren Anteile einer Kultur, die Werte und Normen, sensibilisiert werden. Dazu gehört auch, sich mit seiner eigenen Kultur auseinanderzusetzen. Viele Menschen sind sich ihrer kulturellen Identität gar nicht bewusst. Doch gerade das ist essenziell, um kulturbedingte Unterschiede zu erkennen. Daher konfrontiere ich die Teilnehmer auch mit ihren eigenen Konzepten und Automatismen, die sie kritisch hinterfragen sollen. Das können Alltäglichkeiten sein, wie die Frage, warum es für uns eigentlich normal ist, Reis mit Messer und Gabel zu essen. Warum nicht mit den Fingern?

Wie sieht der praktische Teil aus?

Die Theorie wird mithilfe von Simulationsspielen in die Praxis umgesetzt, in denen die Teilnehmer mit ihren Ängsten, Unsicherheiten und festen Annahmen konfrontiert werden. Dass wir alle mit vorgefertigten Bildern im Kopf rumlaufen, zeigt sich zum Beispiel bei einem Spiel, bei dem ich den Namen eines beliebigen Landes in die Gruppe rufe und einem Teilnehmer unverhofft einen Ball zuwerfe. Der muss dann spontan sagen, was ihm zu diesem Land einfällt. Das fordert Spontaneität und erlaubt kein langes Nachdenken. Viele zeigen sich dann selbst über ihre geäußerten stereotypen Bilder und Vorurteile überrascht.

Irene Martius bietet seit sieben Jahren Interkulturelles Training an der VHS-Südost in Ottobrunn an. (Foto: Robert Haas)

Wie sind Sie auf das interkulturelle Training aufmerksam geworden?

Nach meinem Abitur bin ich für ein Jahr als Au Pair nach Madrid gegangen; nebenbei besuchte ich einen Kurs über spanische Landeskunde und Kultur an der Universität. Da wurde mein Interesse für andere Kulturen geweckt. Diese Erfahrung hat auch zu meiner Entscheidung geführt, Iberoromanistik und Germanistik zu studieren. Parallel habe ich die Zusatzausbildung "Deutsch als Fremdsprache" gemacht, mit einem viermonatigen Praktikum am Goethe-Institut in Rio de Janeiro, Brasilien. Die Arbeit des Goethe-Instituts fand ich schon immer sehr reizvoll, da das Institut eine Botschaft für deutsche Sprache und Kultur ist.

Welche interkulturellen Missverständnisse sind Ihnen bisher persönlich widerfahren?

Ich habe viele erlebt, aber besonders in Erinnerung ist mir eine Situation im Goethe-Institut in Rio de Janeiro geblieben. Zu einem Seminar kamen damals verschiedene Mitarbeiter aus ganz Brasilien in das Institut nach Rio. Als ich einer der Mitarbeiterinnen erzählte, dass ich eine Rundreise durch Brasilien plane, war sie ganz begeistert. Sie sagte mir, ich solle mich melden, wenn ich ihre Heimatstadt, Belo Horizonte, besuchen wolle. Als ich sie schließlich anrief, um meinen Besuch anzukündigen, merkte ich aber sofort, dass etwas nicht stimmt. Sie wirkte am Telefon sehr kühl und ich begriff schnell, dass sie nach einem Vorwand suchte, um mir absagen zu können. Dem kam ich dann zuvor. Ich war wahnsinnig enttäuscht und fühlte mich persönlich zurückgesetzt. Sie hatte mich doch schließlich zu sich eingeladen! "Sollen die noch einmal über die ,kühlen Deutschen' schimpfen!", dachte ich wütend. Später begriff ich dann, dass die vermeintliche Einladung für meine brasilianische Kollegin nur ein Zeichen von Höflichkeit war und nichts Verbindliches hatte. Dadurch, dass ich sie einlösen wollte, hatte ich sie in Bedrängnis gebracht, denn in Brasilien gilt ein direktes Nein als sehr unhöflich.

© SZ vom 08.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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