Oberschleißheim:Ohne Schutzraum geht es nicht

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Raphael Steinberger, Helmut Roth, Marcus Forster und Joachim Unterländer (von links) diskutierten mit Moderator Michael Bauer (verdeckt). (Foto: Lukas Barth)

Fachleute diskutieren in Oberschleißheim die Zukunft der Werkstätten für Behinderte

Von Johanna Mayerhofer, Oberschleißheim

Jutta Simon glaubt fest an eine Zukunft der Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Als Leiterin des Heilpädagogischen Centrums Augustinum in Oberschleißheim bietet sie 200 Menschen mit Behinderung eine Möglichkeit, in Werkstätten am Arbeitsleben teilzuhaben. Seit dem Beschluss der UN-Behindertenrechtskonvention 2008 zweifeln Kritiker an der Notwendigkeit des Werkstättenwesens. Sie fordern im Sinne der Inklusion eine verstärkte Integration von Menschen mit Einschränkungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Unweit der Oberschleißheimer Werkstätten bietet die Inklusionsfrage auf dem Werkstättentag im Bürgerzentrum am Mittwoch viel Diskussionsstoff. Praktiker wie Jutta Simon und Mitglieder der bayerischen Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen sprechen sich in Vorträgen für den Ausbau und eine Weiterentwicklung des Werkstättenwesens aus.

Menschen mit Behinderung sollen selbstbestimmt leben und am Leben in der Gesellschaft teilhaben können. Ein Grundsatz, der laut der UN-Behindertenrechtskonvention noch nicht vollständig in der Gesellschaft realisiert ist. Sie fordert die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben. Seit ihrem Beschluss beschäftigen sich die Länder mit der gesetzlichen Umsetzung in Bereichen wie Bildung, Politik und Beschäftigung. Vor allem die Frage nach einer erfolgsversprechenden Inklusion am Arbeitsmarkt bleibt in Deutschland bisher ungeklärt.

Arbeit als erfüllendes Element - für Joachim Gradl, Vorsitzender der LAG Werkstatträte Bayern, ist Arbeit für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben unabdingbar. Bei einer Eingliederung der 32 806 Werkstättenbeschäftigten in Bayern auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt es allerdings viele hemmende Faktoren, betont Gradl. Menschen mit Behinderungen haben noch zu oft Bedenken, was eine Arbeitsstelle außerhalb von Werkstätten betrifft: Arbeitsdruck, Stress und Angst vor dem Scheitern sehen viele als Hindernisse. Außerdem fürchten sie im Vergleich zur Werkstättenarbeit den Verlust an Anerkennung und sozialen Kontakten.

Unternehmen müssten deshalb stärker die individuellen Fähigkeiten berücksichtigen. Als großen Entwicklungsschritt in der Inklusionsfrage und der Individualisierung der Hilfen sieht Gradl das Bundesteilhabegesetz. Aus dem bisherigen Sozialhilfegesetz und Fürsorgesystem ausgegliedert, soll die neue Eingliederungshilfe laut dem Gesetzesentwurf zukünftig einkommens- und vermögensunabhängig geleistet werden. Bis März 2016 soll der Gesetzesentwurf beschlossen werden.

Bezirkstagspräsident Josef Mederer sieht durch die neu geplante Eingliederungshilfe ein Mehr an Kosten auf den Bezirk als Leistungserbringer zukommen. Er hofft auf Unterstützung durch den Bund und eine mit dem Gesetz einhergehende Reform der derzeitigen Leistungsfinanzierung. "Die Lasten müssen gerecht verteilt werden", sagt Mederer. In seinem Grußwort betont der Bezirkstagspräsident, dass das Arbeiten in einer Werkstätte weiter als Wahlmöglichkeit bestehen bleiben muss. "Die Menschen sollen dort hingehen können, wo sie sich wohl fühlen." Überholt sei die Werkstatt, wenn sie sich nicht als lernende Organisation erweist, sagt Gerd Grampp, Sonderschullehrer und Diplompädagoge. In seinem Fachbeitrag fordert er eine Verbesserung der Qualifizierungsmöglichkeiten in den Werkstätten. So könnten sich die Werkstättenmitarbeiter im allgemeinen Arbeitsmarkt als wettbewerbsfähig erweisen. In einer anschließenden Diskussionsrunde ist man sich einig: Inklusion braucht die Werkstätten. Eine Abschaffung der Sondereinrichtungen wäre nicht förderlich, gelten sie doch oft für Menschen mit Behinderung als Voraussetzung, sich durch Ausbildung und Förderung auf dem offenen Arbeitsmarkt behaupten zu können. Raphael Steinberger von der Agentur für Arbeit in Freising sieht abseits der Werkstättenarbeit durch den demografischen Wandel und Fachkräftemangel Chancen für Menschen mit Einschränkungen auf dem ersten Arbeitsmarkt.

Marcus Forster hat seinen Platz in der Arbeitswelt gefunden: Mit der Anstellung beim Roten Kreuz in Erding kann sich der Mitarbeiter der Isar Sempt Werkstätten trotz anfänglicher Schwierigkeiten an seinem Außenarbeitsplatz behaupten. Die Beschäftigungsform, bei der Werkstätten mit Unternehmen des allgemeinen Arbeitsmarktes kooperieren, findet Forster eine geeignete Möglichkeit der Teilhabe. Unter dem Schutz der Werkstätten könne dem allgemeinen Arbeitsdruck besser Stand gehalten werden. Auch Jutta Simon sieht in ihrer Arbeit in Oberschleißheim die Schaffung von weiteren Außenarbeitsplätzen als Ziel. "Dazu müssen sich aber auch Unternehmen weiter öffnen und Bereitschaft zeigen."

© SZ vom 22.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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