Nutzungsverhalten:"Ältere Menschen warten nicht, sie machen einfach"

Nutzungsverhalten: Helga Pelizäus-Hoffmeister von der Bundeswehr-Universität in Neubiberg leitet ein Projekt, das sich mit Technik im Alltag älterer Menschen befasst.

Helga Pelizäus-Hoffmeister von der Bundeswehr-Universität in Neubiberg leitet ein Projekt, das sich mit Technik im Alltag älterer Menschen befasst.

(Foto: Claus Schunk)

Treppenlifte und Haushaltsroboter? Da winken viele Senioren ab. Sie wissen, sich selbst zu behelfen, hat Helga Pelizäus-Hoffmeister festgestellt. Die Soziologie-Professorin der Bundeswehr-Universität erforscht mit ihrem Team, welche Produkte älteren Menschen nutzen

interview Von Daniela Bode, Neubiberg

Ein geräuscharmer Treppenlift, ein Pflege-Roboter - hört sich gut an. Solche Geräte sollen ältere Menschen unterstützen, ihren Alltag zu erleichtern. Doch helfen diese Produkte tatsächlich und wollen Senioren diese überhaupt benutzen? Ein Team aus Sozial- und Ingenieurwissenschaftlern an der Universität der Bundeswehr München in Neubiberg hat sich in dem Projekt "Anwendungsfelder für Technik im Alltag von Senioren aus Nutzersicht" mit diesen Fragen befasst. Und herausgefunden, dass künftige Produkte sich stärker daran orientieren müssen, was ältere Menschen zur Bewältigung ihres Alltags wirklich brauchen. Die Süddeutsche Zeitung spracht mit Helga Pelizäus-Hoffmeister von der Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften über das Projekt. Die Professorin leitet das Vorhaben.

SZ: Wie kamen Sie auf die Projektidee?

Pelizäus-Hoffmeister: Ich habe meine Habilitation zu Technik und Alter geschrieben und festgestellt, dass das ein höchst relevantes Thema ist, weil man davon ausgeht, dass technische Produkte die Selbständigkeit von Menschen im Alter unterstützen können. Ich stellte fest, dass sehr viel entwickelt wird, das aber gar nicht in den Alltag der Menschen hineinpasst. Beispielsweise ein kleiner Roboter, der Turnübungen vormacht. Die Akzeptanz solcher Produkte ist sehr gering. Wir Sozialwissenschaftler haben uns dagegen gedacht: Wo liegen die Probleme im Alltag der Senioren, die mit den Produkten gelöst werden sollen? Der Mainstream, also die Ingenieure, machen das andersherum. Sie entwickeln erst die Produkte und schauen dann, welche Probleme sie damit lösen können. Wir wollten genau andersherum vorgehen.

Wie sind Sie vorgegangen? Was haben Sie untersucht?

Wir haben eine sozialwissenschaftliche Methode entwickelt, mit der man erheben kann, wie der Alltag älterer Menschen aussieht. Wir haben Feldforschung betrieben, haben Senioren also in ihrem häuslichen Umfeld besucht. Wir haben mit ihnen geredet und beobachtet, mit Hilfe welcher Praktiken sie im Alltag zurecht kommen. In einer Sitzung erfassten wir die allgemeine Lebenssituation der Person. Was eine relativ neue Wendung war: Wir haben die Senioren als Forschungspartner betrachtet. So war ihre Bereitschaft sehr groß, uns ihren Alltag zu zeigen. Das Faszinierende ist: Wir haben Probleme gesucht, aber Bewältigungspraktiken gefunden.

Sie fanden heraus, dass Ältere individuelle Routinen entwickeln für ihren Alltag.

Ja. Sie warten nicht auf irgendwelche Produkte, sondern sie machen einfach. Wir haben fünf Muster herausgearbeitet, derer sich ältere Menschen behelfen. Zum Beispiel Körpertechniken. Eine ältere Dame stellte sich immer quer zum Geländer, als sie die Treppe nutzte, und ging in einer Art Nachstellschritt langsam nach unten. Da dachten wir, wir hätten unsere erste Problemlage und die Mitarbeiterin, eine Ethnologin, die die Feldforschung dort machte, schlug einen Treppenlift vor. Da war die Dame ganz empört. Einen Treppenlift hätte sie nicht akzeptiert, da sie das Treppensteigen als eine Art Training sah. Das war eine Quintessenz der Untersuchungen: Man muss anerkennen, dass Senioren selbst über eine sehr große Kompetenz verfügen, ihren Alltag zu bewältigen.

Welche Muster haben Sie noch festgestellt?

Ältere machen im Alltag bewusst Dinge, um sich fit zu halten. Das nennt man Empowerment. Eine Dame machte vor dem Fernseher immer Gymnastik. Senioren verändern auch ihr Wohnumfeld, um es ihren Bedürfnissen anzupassen. Eine Dame, die in der Beweglichkeit sehr eingeschränkt ist, hatte ihren Flur mit Möbeln und Kartons vollgestellt. Sie nutzte das als eine Art Geländer, um keinen Rollator zu brauchen. Eine andere Frau, die unter starken Schmerzen leidet, hatte sich Wohninseln geschaffen. Auf dem Sofa hatte sie sieben Kissen und zwei Decken, die braucht sie, um bequem zu sitzen. Auf die Sofalehne legte sie Fernbedienung und Telefon. Im Sichtfeld von dort stehen der Fernseher und Fotos von ihren Angehörigen. Sie hat alles so platziert, dass sie sich möglichst wenig bewegen muss. Das ist eine sehr effektive Strategie.

Senioren sollten also am besten in die Entwicklung von Produkten einbezogen werden?

Das wird seit zehn bis 15 Jahren im Prinzip schon getan. Das Problem ist nur, dass die Produkte dann schon entwickelt sind und die Senioren hinterher nur noch gebeten werden, sie zu testen. Wir finden, dass man erst die Probleme kennen muss und dann Lösungen finden. Und nicht umgekehrt.

Was empfehlen Sie also Produktentwicklern?

Sie sollen sich die Bewältigungsstrategien der älteren Menschen im Alltag genau anschauen. Dann werden sich auch völlig neue Produkte ergeben. In dem Zusammenhang finde ich es auch so wichtig, dass wir interdisziplinär arbeiten, weil der eine ein Fachwissen hat, das der andere nicht hat, und in den verschiedenen Disziplinen verschiedene Denkmuster herrschen.

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