Neubiberg:Schmerzhafter Blick ins Familienalbum

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Bei der Lektüre eines Fachbuchs stieß Jennifer Teege auf die wahre Geschichte ihrer Großmutter. (Foto: Claus Schunk)

Als Erwachsene erfährt Jennifer Teege von ihrem Großvater, dem Nazi-Schlächter Amon Göth. Eine Lesung in Neubiberg offenbart das Drama der Selbstfindung

Von Christina Jackson, Neubiberg

Zur Untermalung seines sadistischen Morgenrituals hörte KZ-Kommandant Amon Göth klassische Musik. Er zielte vom Balkon seiner Villa oberhalb des Konzentrationslager Płaszów im besetzten Polen mit einem Präzisionsgewehr auf die Gefangenen. Steven Spielberg verarbeitete diese Szenen in seinem 1993 erschienenen Spielfilm "Schindlers Liste". Darin spielt Ralph Fiennes die Rolle des unberechenbaren und cholerischen Nazis Göth. Als Jennifer Teege, die Tochter eines Nigerianers und einer Deutschen, im Laufe der 90er Jahre die filmische Aufarbeitung dieses deutschen Albtraums sieht, ahnt sie nicht, dass der irre Gewalttäter ihr Großvater ist.

Es war ein Zufall, der sie 2008 auf eine turbulente Reise durch die schwierige Familiengeschichte schickt, an deren Ende die Publikation ihres Buchs "Amon. Mein Großvater hätte mich erschossen" steht. Eine Aufarbeitung, die rund 100 Besucher ins Haus für Weiterbildung in Neubiberg lockte. Dort las Teege aus ihrem Bestseller, dessen Erscheinen sie im Jahr 2013 aus einer langwährenden Melancholie befreite.

Im Stakkato trug Teege das Drama einer Selbstfindung vor, in deren Verlauf streng gehütete Geheimnisse zutage traten. Bis zum 38. Lebensjahr erinnerte sich Teege schwärmerisch und bewundernd an ihre Großmutter Ruth Irene Kalder. "Als Kind war sie für mich die wichtigste Bezugsperson. Sie strahlte Güte aus. Das Gefühl war schön und vertraut." Dabei verlor Teege bereits als Siebenjährige den Kontakt zur leiblichen Verwandtschaft. Ihre Mutter Monika Göth hatte sie zur Adoption freigegeben. Sie lebte drei Jahre im Salberghaus in Putzbrunn, wuchs danach behütet in Waldtrudering auf, studierte, ging nach Israel, heiratete und lebt heute mit zwei Söhnen und Mann in Hamburg. Eine Biografie, die auf ersten Blick nur kleine Brüche offenbart. Doch Teege quälte sich.

Sie hatte Depression und konnte sich nicht erklären, warum. Ein rotes Buch in der Hamburger Zentralbibliothek gab erste Hinweise auf den Ursprung der Traurigkeit. An einem heißen Tag im August stöberte sie ziellos durch die Reihen der Psychologie-Sachbücher. Der Titel "Ich muss doch meinen Vater lieben, oder?" von Matthias Kessler weckte ihre Aufmerksamkeit. Das Buch entstand im Zuge eines zweitägigen Interviews mit Monika Göth. Darin enthalten sind etliche Fotos von Teeges Großmutter in einem Blumenkleid. Teege erinnerte sich an dieses Kleid. Sie selbst besitzt eine solche Aufnahme von ihrer Oma, auf der sie den luftigen, bunten Stoff trägt. "Es war, als würde ich in ein Gruselkabinett eintreten", schreibt Teege über diesen Moment in ihrem Buch. Sie kannte den Namen ihrer Mutter. Aber nicht deren Vergangenheit. Später wird Monika Göth in einer Begegnung mit der erwachsenen Tochter sagen, sie habe das Kind vor einem Trauma bewahren wollen. Eine fatale Entscheidung. Teege: "Jeder Mensch will eine vollständige Geschichte über sich erzählen." Um einen Großteil dieser biografischen Erzählung fühlte sie sich betrogen.

Teege verschlang jedes Buch über ihren Großvater, den "Schlächter von Płaszów", besuchte die düstere Villa in Polen, in der ihre Großmutter ein luxuriöses Leben führte und die Grausamkeiten des KZ-Alltags weitgehend ausblendete. Die einst für ihre Schönheit bewunderte Lebensgefährtin Göths bewahrte das Foto ihres Mannes bis zu ihrem Suizid 1983 über dem Bett an der Wand ausgestellt auf. Ein Verhalten, das Teege nur schwer mit ihrem Bild von der gütigen Großmutter vereinbaren kann. Amon Göth, der 1946 zum Tod verurteilt wurde, lernte sie nie kennen. "Ohne meine Großmutter hätte mich Göth nicht so verstören können. Er hat mich nie im Kinderwagen geschaukelt", schreibt Teege.

In den Worten, die die 44-Jährige für ihre Großmutter findet, klingt immer noch Zärtlichkeit durch. Offenbar hat die Enkelin von Amon Göth ihren Frieden mit der Familie gefunden, auch wenn die gelebten Beziehungen schwierig bleiben. Mit Mutter und Halbschwester ist keine Verständigung möglich. Teege: "Ich kann ihren Kontaktabbruch verstehen. Die Vergangenheit ist auch für sie schwer zu ertragen". Vielleicht ist es gerade diese Distanz, die Teege die Aufarbeitung ermöglichte. Ihrer Halbschwester, die bei der leiblichen Mutter aufwuchs, steht solches womöglich noch bevor. Auch sie ist Mutter. Der Namen ihres Sohnes: Amon.

© SZ vom 15.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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