Neubiberg:Für die Nachkommen

Neubiberg: Lore Schildener hat Kindheits- und Jugenderlebnisse mit ihrem Bruder niedergeschrieben. Damals war die Rollenverteilung noch klar.

Lore Schildener hat Kindheits- und Jugenderlebnisse mit ihrem Bruder niedergeschrieben. Damals war die Rollenverteilung noch klar.

(Foto: Claus Schunk)

Autoren der biografischen Schreibwerkstatt halten Erinnerungen wach

Von Laura Zwerger, Neubiberg

Seit gut 20 Jahren steht in Berlin-Hohenschönhausen eine Gedenkstätte, um an das ehemalige Stasi-Gefängnis zu erinnern. Für Klaus Rolle ist die Zeit, die er dort verbracht hat, auch ohne Mahnmal noch mehr als präsent. In seinem Aufsatz "Da habe ich mich fremd gefühlt" erzählte der Rentner bei einer Lesung in der Neubiberger Corneliuskirche von seiner Haftstrafe im ehemaligen Ostblock. Etwa 30 Hörer lauschten seiner Geschichte und erfuhren, wie er versuchte, aus der DDR zu fliehen und letztendlich als politischer Gefangener der Staatssicherheit in einer 15-Mann-Zelle mit Mördern, Kinderschändern und Totschlägern für ein Jahr ausharren musste.

Schocken wollte Rolle mit seiner Geschichte nicht, wie er beteuerte, es gehe ihm vielmehr darum, Erlebnisse vor dem Vergessen zu bewahren. Er ist einer von etwa sechs Teilnehmern der "Biografischen Schreibwerkstatt" in Neubiberg. "Wir alle haben einen großen Schatz an Erinnerungen", sagte Initiatorin Irmtraud Bohn zu Beginn der Lesung. "Nur verläuft man sich leicht im Erinnerungsschatz - wir wissen ja viel mehr, als wir erzählen können." Daher hat die Rentnerin im Jahr 2013 eine Gruppe gegründet, in der Gemeindemitglieder höheren Alters sich treffen und einander ihre zu Papier gebrachten Erinnerungen vorlesen können.

Oft werden dafür bestimmte Themenfelder als Hausaufgaben vorgegeben - so wie Schule, Geschenke oder auch Schweigen - zu denen bis zum nächsten Treffen Erinnerungen in einem Aufsatz festgehalten werden sollen.

Schreibstil sowie Ecken und Kanten der Geschichte werden dann gemeinsam diskutiert, wobei es sich laut Bohn stets um wohlwollende Kritik handelt, die ja letztendlich zum Schreiben motivieren soll. Was jeder Einzelne mit der Gruppe teilt, liegt jedoch stets im eigenen Ermessen: "Wer Erinnerungen erzählt, entscheidet immer, wie viel er erzählt - und was er verschweigt", erklärte Bohn.

Beim jüngsten Treffen haben die sechs Teilnehmer aus der Schreibwerkstatt dann ihre besten Werke bei der Lesung vorgestellt und dabei von gänzlich unterschiedlichen Episoden aus ihrem Leben erzählt. Mal begann ein Einstieg schwermütig mit dem Satz "Nie sah ich meine Mutter lachen", mal wurde süffisant die damalige Rollenverteilung an Hand eines einzigen Satzes beschrieben: "Während ich Geschirr spülte, las der Herr Karl May."

So handelte eine Geschichte der Teilnehmerin Lore Schildener von einem Geschenk, das sie ihrem Bruder für die Reise nach Übersee geschenkt hatte. Vier Schwestern und ein Bruder seien sie gewesen - der einzige Junge daher automatisch zum Prinzen erkoren. Schildener musste ihm zu Hause stets die Socken stopfen, für seine ferne Arbeitsstelle in Übersee schenkte sie ihm daher dann ein selbstgemachtes Nähetui - mit einem Zettel darin: "Jetzt kannst du endlich lernen, deinen Kram selbst zu nähen." Doch der Witz amüsierte wohl nur sie, als Antwort von ihrem Vater habe sie zu hören bekommen: "Dein Bruder wird ja wohl auf der Überfahrt ein weibliches Wesen finden, das ihm die Knöpfe annäht." Viel Gelächter und Applaus erntete die Geschichte, allzu gut schienen sich alle Anwesenden an die vor einigen Jahrzehnten ganz selbstverständlich geltenden Gesellschaftsnormen zu erinnern. Die Rollen, die Mann und Frau zu spielen hatten, waren noch akkurat getrennt.

Weiter zeigte Elisabeth Jauch mit ihrem Aufsatz über die ersten italienischen Gastarbeiter, wie verschiedene Kulturen sich über die Jahre annäherten: Geradezu exotisch seien die Arbeiter mit den aufgeknöpften, bunten Hemden damals herausgestochen, "man sprach mit ihnen nur in Infinitivsprache und per du", las sie vor. Letztendlich sei jedoch eine Verbundenheit entstanden und als die Arbeiter nach Italien zurückgekehrt seien, sei den Deutschen zumindest die köstliche italienische Küche geblieben. Jauch schwelgte mit ihrer Geschichte aber nicht nur in Erinnerungen, sondern sie verfolgte mit ihren Geschichten ein besonderes Ziel: Bis zu ihrem Ruhestand war sie Gymnasiallehrerin in Ottobrunn, "daher denke ich auch immer an meine Schüler", erklärte sie.

Besonders die jüngeren Generationen scheinen die Teilnehmer der Schreibwerkstatt zu motivieren, ihre Erinnerungen für die Nachwelt festzuhalten. "Ich höre immer wieder von meinen Enkeln, ich solle doch meine Geschichten aufschreiben", erzählte Teilnehmerin Barbara Doenecke. "Ich selbst habe es sehr vermisst, dass ich von meinen Eltern und Großeltern nichts Schriftliches hatte."

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