München: Menschenkette gegen Atompolitik:Zurück auf die Straße

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Es dürfte eine der größten Demonstrationen in München werden: Mehr als 10.000 Atomkraftgegner werden an diesem Samstag erwartet. Mittendrin drei frühere Aktivisten, deren Lebensthema plötzlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist.

Bernd Kastner

Es bewegt sich was, sogar in München. Für Samstag werden mehr als 10.000 Teilnehmer bei der Menschenkette gegen die Atompolitik erwartet. "Uns langt's jetzt!" Diesen Satz, sagt Christina Hacker vom Umweltinstitut, eine der Demo-Organisatorinnen, höre sie immer wieder von Bürgern, und die meinten damit die Politik der Bundesregierung, und im Speziellen den Ausstieg aus dem Atom-Ausstieg. "Ich war Jahre lang nicht mehr auf der Straße, aber jetzt muss es wieder sein" - auch das sei ein viel gehörter Satz verärgerter Bürger. Die Süddeutsche Zeitung hat drei Anti-Atom-Aktivisten getroffen, die feststellen, dass ihr Lebensthema plötzlich die Mitte der Gesellschaft bewegt.

Anti-AKW-Demo in Stuttgart: An diesem Samstag werden bei der Menschenkette in München mehr als 10.000 Teilnehmer erwartet. (Foto: dapd)

Er hat sie sich einfach genommen, die Freiheit. Georg Feifel war Lehrer an der Hauptschule in Haar und irgendwann hat er sich geschworen: "Solange ich an dieser Schule bin, werden wir sie nicht vergessen." Er meint die Kinder von Tschernobyl, für die sie seit der Katastrophe immer gesammelt haben. Aber er nahm sich auch die Freiheit, in seinen Klassen über die Risiken der Atompolitik zu reden. Das hat den Oberen in der Schulhierarchie nicht immer gepasst, aber Georg Feifel war das egal. Nun ist er seit sechs Jahren im Ruhestand, und die Atompolitik lässt den 70-Jährigen noch immer nicht los. Er ist vorsichtig optimistisch: "Ich denke, dass die Vernunft sich durchsetzt", sagt er und fügt noch ein "teilweise" hinzu. Er meint den Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg.

Georg Feifel träumt von einem zukunftsfähigen Deutschland.. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Das Waldsterben brachte Georg Feifel in die Ökobewegung, 1983, auf einer Lehrerwerkstatt in der Evangelischen Akademie Tutzing, da verfassten sie einen emotionalen Aufruf. Drei Jahre später explodierte Tschernobyl, und Feifel fragte sich: was jetzt? Seine Kinder waren fünf und sieben Jahre alt. "Dürfen wir sie noch in den Sandkasten lassen?" Sie gewöhnten sich an, die Schuhe vor der Wohnungstür auszuziehen, aber auf Dauer war das keine Lösung. In Haar taten sich Väter und Mütter zusammen und gründeten die "Eltern gegen Atomkraft". "Die Aktiven waren die Frauen", sagt Feifel.

Die Materialien von einst spiegeln einen Teil seines Lebens, das in einem Allgäuer Dorf begann, von der Generation der 68er beschleunigt wurde und irgendwann nach Mutlangen führte, um gegen eine andere Form der Atom-Politik zu protestieren, gegen die Waffen. Es ist das Leben eines jener Aktivisten, die ohne viel Tamtam an der Basis arbeiten, leise und kontinuierlich: für Biotope, gegen Atomkraft. Da ist ein Zeitungsfoto, das ihn und Schüler zeigt und ein Plakat: "Ändert sich unser Klima?" 1993 hat er das bereits gefragt, und Stichwörter an die Wand gepinnt, die erst ein Jahrzehnt später Allgemeingut wurden: Wirbelstürme, Sturmfluten, Überschwemmungen. Als Vorsitzender der Ortsgruppe Haar des Bund Naturschutz schrieb Georg Feifel selbst Plakate. "Zukunftsfähiges Deutschland" steht auf einem, geschrieben mit Filzstift in der säuberlichen Handschrift des Lehrers.

Als Senior hat Georg Feifel für sich noch das Internet als Medium der Aufklärung entdeckt - und einen Schulrat hat er auch nicht mehr über sich. Heute frage ihn höchstens seine Frau: "Bist schon wieder auf der Straße?"

Ihr Baby war 20 Tage alt damals, als es passierte. Eigentlich hatte Cornelia Stadler genaue Vorstellung von ihrem neuen Leben: "Ich wollt nur noch Mutter sein", aber dann wurde sie politisch. In Tschernobyl war der Reaktor explodiert, es war der 26. April 1986. Die Katastrophe sollte das Leben der jungen Frau prägen, sie wurde von einer ganz normalen Mutter in einem Münchner Vorort zu einer der "Mütter gegen Atomkraft".

24 Jahre später schaut sie von einem Café aus auf den Marienplatz hinab, dorthin, wo alles begann. Sie hat noch immer die Daten von damals im Kopf: Regen am 30. April, dann am 1. Mai Sonne, die Leute sind rausgegangen in die Natur, "keiner hat gesagt, dass es gefährlich ist". Über den österreichischen Rundfunk seien die ersten Warnungen nach Bayern gedrungen, und bald war Cornelia Stadler klar, dass sie was tun müssen. "Plötzlich waren ganz viele Frauen solidarisch." Was tun, wenn man das Baby nicht mit der normalen Milch füttern kann? Was tun mit den Spielplätzen? Sie haben einen 25-Kilo-Sack Milchpulver organisiert, was gar nicht einfach war. Und später haben bei ihnen draußen, in Petershausen, die Mütter die Spielgeräte abgewischt und den Sand abgegraben: Selbsthilfe in Zeiten des Gau. "Kein Offizieller hat sich für den Katastrophenschutz zuständig gefühlt."

Bald war Muttertag, da sind einige Mütter auf den Marienplatz und haben ihre Blumensträuße, die sie gerade geschenkt bekommen hatten, abgelegt, als Protest. Sie haben dafür 300 Mark Strafe zahlen müssen, weil die Demo spontan, also nicht ordnungsgemäß angemeldet war. So ist der Verein "Mütter gegen Atomkraft" entstanden. Stadler, Journalistin von Beruf und mittlerweile Großmutter, ist heute noch aktiv, redigiert die Vereinszeitung "Mütter Courage".

Was haben sie nicht alles gemacht in all den Jahren. Sind mit Kinderwagen zum Windel-Protest nach Wackersdorf gefahren, ließen von der Polizei ihre Buggys filzen, haben Kinder aus Tschernobyl für Ferien nach Bayern eingeladen, unterstützen heute noch krebskranke und bedürftige Jungen und Mädchen in der Ukraine. Zu Hause kämpft Cornelia Stadler ihren ganz eigenen kleinen Kampf gegen die Energieriesen: Für viel Geld haben sie eine Photovoltaikanlage auf ihrem Hausdach installieren lassen, aber es dauerte Monate, ehe sie nun endlich ans Netz angeschlossen wird, "es war ein hartes Stück Arbeit".

Vor allem aber tut sich politisch etwas. Die Mütter merken, dass viele einst Aktive, die sich über Jahre nicht gemeldet haben, jetzt wieder anrufen oder mailen. "Wir wollen jetzt was tun", das hört Frau Stadler derzeit oft: einen Infostand organisieren, zur Demo mobilisieren oder zum Wechsel des Stromlieferanten aufrufen. Die junge Anti-Atom-Oma freut sich, dass eine neue Generation heranwächst, Eltern mit Kindern, wie sie selbst damals, eine Generation, die die Sache vielleicht "weniger verbissen" sieht als sie selbst damals, "wir waren richtig wütend." Heute machen die jungen Leute aus einer Demo einen Event, machen von unten Politik mit viel Spaß.

Cornelia Stadler ist 60 jetzt. Eigentlich, sagt sie, hätte sie nichts dagegen, wenn sie den Stab an Jüngere abgeben könnte. Aber dann? Einfach nichts mehr tun, resignieren? Der Politik nur zuschauen in diesen Tagen? Ausgeschlossen. "Ich fühle mich einfach verantwortlich."

Rudi Amannsberger hatte sein Schlüsselerlebnis im Bus. Mitten in der Nacht war es, auf dem Gelände einer Autobahnmeisterei. Sie waren gerade auf dem Weg nach Brokdorf, und seit München wurden sie begleitet von Zivilpolizisten. Kurz vor Verlassen des bayerischen Bodens hat man sie rausgewunken und durchsucht. Das dauerte. Stunden vergingen, und als sie endlich weiterfahren durften, da hätten sie es nicht mehr geschafft bis Brokdorf. Die Busfahrer hätten ihre Lenkzeiten überschritten. Frustriert sind sie zurück nach München.

Das war im Februar 1978, und so kommt es, dass Amannsberger sich einen Achtundsiebziger nennt. Wie viele Achtundsechziger ist auch er heute ein gesetzter Herr mit grauen Haaren, der locker als Oberstudienrat durchgehen würde - nur sein hellblaues T-Shirts mit dem zerschlissenem Kragen, das er unterm Hemd trägt, erinnert äußerlich an früher. An jene Jahre, als er sich dem anarchistischen Lager zurechnete, und sie im Englischen Garten das "AKW München Mitte" errichteten; als der Rudi in einer Fünfer-WG mit zwei Kindern lebte, und das in einer Doppelhaushälfte in Kirchtrudering. Dort haben sie irgendwann einen Tag der offenen Tür veranstaltet und ihre selbstgebastelte Sonnenkollektoren auf dem Dach vorgezeigt. Dass sie die entsprechende Bauanleitung tausendfach verkauften, deutete schon in die Zukunft; allein, dass sie das damit verdiente Geld für die Kampagne "Waffen für El Salvador" spendeten, klingt wie aus einer anderen Zeit.

Amannsberger, heute 54, war nie ein Krawallbruder. "Ich fand es gut, dass die Leute am Zaun gesägt haben", sagt er über die Monate in Wackersdorf, aber selbst mitsägen, das hätte er nie getan. Er gehörte nicht zu den Autonomen, den "Mollis", sondern war ein "Müsli", ein Gewaltfreier. Nass gemacht haben sie ihn trotzdem, die Wasserwerfer, aber das ist eher eine Auszeichnung für einen Veteranen. Nachdem sich die Staatsregierung 1989 von heute auf morgen von der Wiederaufbereitungsanlage verabschiedete hatte, wurde die Mobilisierung gegen die Atomenergie schwieriger. "Da war die Luft raus." Und als Rot-Grün den Ausstieg beschloss, wurde es noch ruhiger. Bis Schwarz-Gelb kam. "Wir erleben einen entscheidenden Moment", sagt Amannsberger: "Der Atomdeal wird nicht lange halten."

Seit gut 20 Jahren arbeitet Rudi Amannsberger hauptberuflich bei den Grünen als Energie-Referent. Um ein Mandat hat er sich nie bemüht. Er arbeite lieber im Hintergrund und füttere seine Abgeordnete mit Material gegen die Regierenden. Sicher ist jetzt schon, dass seiner Partei nichts Besseres passieren konnte als der Ausstieg aus dem Ausstieg, er treibt ihnen Wähler zu und lässt die Grünen strahlen, auch wenn sie das nie so sagen würden. Sein einst so abseitige Lebensthema treibt heute die Mitte der Gesellschaft um. Eine Mitte, die sich ganz anders ansprechen lässt: Gingen sie einst nachts auf die Straßen, um wild zu plakatieren, läuft heute das meiste über das Internet. Feste Organisationen sind out, spontane Mobilisierung für bestimmte Ziele dagegen funktioniert.

Nach der gescheiterten Brokdorf-Reise 1978 sind sie übrigens nicht nach Hause, sondern in die Münchner Fußgängerzone. Ersatz-Demo. Es hat damals nur keinen interessiert, was daran gelegen haben könnte, dass Faschingssamstag war.

© SZ vom 07.10.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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