München:Kleines Kammerl, große Werke

Thomas Mann mochte Bad Tölz, hier arbeitete er an "Der Tod in Venedig". Aber die Einheimischen ließ er Umwege laufen, damit sie ihn nicht nervten

Von Klaus Schieder

Das Herrenzimmer ist überraschend klein, nicht viel mehr als ein Erker. Vor dem Fenster stand der Schreibtisch von Thomas Mann, der Blick geht hinaus auf den Garten mit der großen Wiese, dahinter eine Baumreihe. An diesem Platz schrieb der Schriftsteller große Teile der Novelle "Der Tod in Venedig", später auch die Anfänge seines Romans "Der Zauberberg". Wenn er in der 1909 erbauten Tölzer Villa an der Heißstraße im Sommerurlaub weilte, war er mit seiner Familie schließlich nicht bloß für drei oder vier Wochen da - meist dauerte der Aufenthalt von Mitte Juni bis Mitte Oktober. Hundert Jahre später ist sein Arbeitszimmer eine kleine Teeküche für die Armen Schulschwestern: Anstelle des Schreibtischs steht ein einfacher Tisch mit vier Stühlen, an den Wänden eine Kommode und ein Wandschrank, am Fenster zum Garten hin hängen geblümte Vorhänge.

München: Thomas Mann mit Ehefrau Katia, Baby Golo, Klaus und Erika.

Thomas Mann mit Ehefrau Katia, Baby Golo, Klaus und Erika.

(Foto: Archiv Buchhandlung Winze)

Thomas Mann mochte Bad Tölz. Schon 1903 schrieb er in einem Brief an seinen Freund Kurt Martens, dass er ihn gerne besuchen würde, weil es ihm in Tölz so gut gefalle. Das erzählt Martin Hake, Mitglied des Historischen Vereins Bad Tölz und des Thomas-Mann-Forums München, während eines Rundgangs auf den Spuren des Schriftstellers am Montag zum Auftakt des Thomas-Mann-Jahrs in der Kurstadt.

1908 ging alles schnell: Der Dichter kaufte das große Grundstück an der Heißstraße, wo damals außer zwei, drei Villen nichts in der Nähe war, im September begann der Bau, im Dezember war der Rohbau fertig, im Juni 1909 folgte der Einzug. Seither hat sich an der Villa kaum etwas verändert. Lediglich die Rundbogen-Fenster im Erdgeschoss wurden irgendwann durch quadratische Fenster ersetzt. Sogar der rostige Gockel thront noch auf dem Dach. Für Hake ist es "ein großes Glück", dass die Armen Schulschwestern das Landhaus, das Mann 1917 wieder verkaufte, 1926 erwarben. Die Orden hielt das Anwesen über die Jahrzehnte in Schuss, baute aber nicht um. "Sonst würde es heute ganz anders dastehen", sagt der Lokalforscher.

Thomas Mann Jahr

Heute lebt Schulschwester Edelhild dort.

(Foto: Manfred Neubauer)

Über der Eingangstür auf der straßenabgewandten Seite prangt noch das halbrunde Gitter mit den Initialen "ThM". In der Diele führen zwei Türen in der Mitte ins Esszimmer und ins Damenzimmer, die dritte Tür linkerhand ins Arbeitszimmer. An der inneren Hauswand schwingt sich eine Holztreppe hinauf zum Obergeschoss mit dem Vestibül, dem Badezimmer, den Schlaf- und Kinderzimmern. Im Dachgeschoss waren Speicher, Fremdenzimmer und eine eigene Koffer-Kammer untergebracht. Wenn die Manns nur zehn Gehminuten entfernt am alten Bahnhof oberhalb des heutigen Jugendcafés ankamen, wartete schon "der alte Gundermann" auf sie, wie sie den Kutscher Johann Gundermann nannten. Der brachte sie dann mitsamt allem Gepäck zur Villa. Im Keller gab es noch die Küche, einen Speisenaufzug, einen Bügelraum. So herrschaftlich das Landhaus von außen noch immer wirkt, so verblüffend eng sind drinnen die Zimmer, meist kaum mehr als ein paar Quadratmeter groß. Manns Schreibkabinett sei "nur ein Kammerl", sagt Hake. Das sei nicht zu vergleichen mit dem riesigen Arbeitszimmer in der Villa Poschinger in München.

Thomas Mann Jahr

In diesem winzigen Zimmer arbeitete Thomas Mann, wenn er mit seiner Frau die Ferien in Bad Tölz verbrachte.

(Foto: Manfred Neubauer)

Mit dem Bau hatte Mann den Architekten Hugo Röckl beauftragt, einen Neffen des Münchner Baumeisters Gabriel von Seidl, der das Bild von Bad Tölz entscheidend mitgeprägt hat. Warum nicht Seidl selbst? "Es gibt von ihm einen Vermerk, dass er ihm zu teuer war", sagt Hake. Gestört haben den Schriftsteller die Spaziergänger, die auf dem Weg im Norden seines Grundstücks unterwegs waren, gleich hinter dem kleinen Gartenhaus. Deshalb kaufte er noch Boden dazu, worauf sich die Passanten bei der Stadt beschwerten, dass sie nun außen herum gehen müssten und nasse Füße bekämen. Mann musste einen neuen Spazierweg anlegen lassen, wovon mehrere Briefwechsel mit dem damaligen Bürgermeister Alfons Stollreither künden. Darin gehe es um Fragen, wer die Kosten zu tragen haben, wie genau der Weg anzulegen und auszuführen sei, erzählt Hake.

Thomas Mann Jahr

Dort schrieb er große Teile der Novelle "Der Tod in Venedig".

(Foto: Manfred Neubauer)

Oft waren in der Villa die vermögenden Schwiegereltern des Schriftstellers zu Besuch. Alfred Pringsheim feierte dort 1910 seinen 60. Geburtstag. Am Vorabend spielte die Kurkapelle ein Ständchen für ihn im Garten, tags darauf gab es einen Fackelzug, außerdem sangen Schulkinder, die Annette Simon-von-Eckardt mitbrachte, eine Freundin des Malers Franz Marc. Auch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erlebte Thomas Mann in seiner Tölzer Villa. Mit viel Fantasie und Wortschmuck beschreibt Klaus Mann in seinen Autobiografien "Kind dieser Zeit" und "Wendepunkt", wie er mit seinen Geschwistern am 31. Juli 1914 im Nachbargarten ein Theaterstück probte und vom Kindermädchen ermahnt wurde, aufzuhören, jetzt sei Krieg. Der Vater habe "feierlich vertieft" in den Sonnenuntergang im Garten gestanden und die Gegenwart seiner Familie nicht bemerkt.

Für die Kinder Klaus, Erika, Golo und Monika war Bad Tölz ein kleines Paradies. Sie gingen im Klammerweiher zum Schwimmen, bei den zwei Winteraufenthalten in der Villa auch zum Rodeln. Im Jubiläumsjahr gehe es deshalb nicht nur um Thomas Mann selbst, sondern um die ganze Familie, sagt Organisator und Dritter Bürgermeister Christof Botzenhart. "Die Kinder haben aktive Ferienerinnerungen." Darunter auch eine traurige. Nahe des Gartenhauses steht noch der Steinhaufen, unter dem der erste Familienhund "Percy" begraben ist. "Die Kinder legten dort Blumen hin", so Hake. Danach kam "Bauschan", den Thomas Mann in der Erzählung "Herr und Hund" verewigte. Den Mischling habe er von Stasi Halder am anderen Ende von Tölz gekauft, so Hake.

Als die Manns wegzogen, erwarb zunächst der Verleger Willy Wiegand aus Bremen die Villa. 1925 wurde nebenan ein Landschulheim gebaut, das heutige Josefsheim und Hauptsitz der Armen Schulschwestern. Im Landhaus des Schriftstellers sollten die Mädchen untergebracht werden. Aus dem Projekt wurde nichts, weshalb die Kongregation im Jahr darauf beide Gebäude kaufte. Zu einem günstigen Preis, wie Hake sagt: "Das war zu Zeiten der Hyperinflation." Damals habe Michael Kardinal von Faulhaber zu den Schulschwestern gesagt, "das hat euch der heilige Josef zugeschustert", erzählt Schwester Edelhild. Zusammen mit Schwester Gerhildis wohnt die 74-Jährige in der Mann-Villa und beherbergt dort auch Nonnen ihres Ordens, die aus anderen Orten zum Urlaub nach Tölz kommen. Die anderen 23 Armen Schulschwestern leben im Josefsheim.

Auch wenn in einem Schrank in der Diele etliche Werke von Thomas Mann gleich neben Büchern über Franz von Assisi und über den Jakobsweg im Bücherschrank stehen, bekennt Schwester Edelhild freimütig, dass sie "keinen großen Bezug zu Thomas Mann" habe. Als Sportlehrerin hatte sie lange an einer Montessori-Schule in Stockholm gearbeitet. Auch im Jubiläumsjahr wird die Mann-Villa für Besucher verschlossen bleiben, sie dürfen allerdings in den Garten mit den Kastanien, die der Schriftsteller gepflanzt hat. Vor dem Zaun steht ein Schild mit der Aufschrift: "Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken." Es stammt aus dem "Schnee-Kapitel", einer zentralen Passage aus dem Roman "Der Zauberberg". Was richtig viel Schnee bedeutet, hat Thomas Mann erst in Bad Tölz erlebt. In einem Brief schreibe er, dass er im Leben noch nie so viel Schnee gesehen habe wie hier.

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