Mitten in Haar:Ramadama im Kopf

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Schluss mit rostig: Die Gemeinde Haar sagt den herrenlosen Rädern am Bahnhof den Kampf an

Von Bernhard Lohr

Wie verzweifelt muss er gewesen sein, dass er zum Hörer griff und gleich bei einem Radiosender anrief. Aus einem stolzen Autobesitzer war ein Häufchen Elend geworden, nur weil ihm sein Gedächtnis ein Schnippchen geschlagen hatte. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wo er vor Beginn seiner Zechtour das Auto abgestellt hatte. Und so ging die Nachricht in den Münchner Äther hinaus, dass sich melden solle, wer das in der Folge näher beschriebenes Auto am Straßenrand gesehen habe - und zwar irgendwo zwischen Ostbahnhof und Hauptbahnhof.

Das Ganze ist ein paar Jahre her, doch unvergessen. Zeigt doch die Anekdote, auf welch dünnem Eis sich der Homo sapiens bewegt. Auch wenn ihm heute Facebook als Gedankenstütze dient und mitteilt, dass dieser oder jener Kollege Geburtstag hat, alles kann ihm die Technik nicht abnehmen. Er sucht seinen Autoschlüssel, er sucht sein Auto. Er ist vergesslich oder hat zu viel getrunken, um sich an alles zu erinnern. Manchmal auch zum eigenen Vorteil.

Alles andere als ein Segen ist es freilich, wenn sich die Menschen gedanklich von ihren alten Fahrrädern verabschieden. Am Haarer Bahnhof rosten sie in schwer zu überschauender Zahl vor sich hin. Es ist ein deprimierender Anblick, wie sie da kreuz und quer liegen, mit platten Reifen, fehlenden Sätteln und verbogenen Felgen. Wie tröstlich ist es da, von Menschen wie dem Schauspieler Peter Lohmeyer zu hören, der soeben als fahrradfreundlichste Persönlichkeit ausgezeichnet worden ist. Er hat seine Liebe zu den alten, kaputten Rädern am Straßenrand gestanden. Traurig mache ihn deren Anblick, sagt er. Einmal soll er sogar ein Fahrrad von der Straße mitgenommen haben, um es zu reparieren und dann wieder zurückzustellen.

In Haar hätte Lohmeyer viel zu tun. Wer lässt dort sein geliebtes Rad einfach stehen? Ist die große Zahl an Fahrradleichen ein Zeichen von Vergesslichkeit oder gar fehlender Empathie gegenüber einem Gebrauchsgegenstand, der einem gute Dienste geleistet hat? Oder haben die Menschen einfach ein großes Herz und lassen die alten Radl stehen, damit andere sich bei Bedarf bedienen und sie als Ersatzteillager ausschlachten können? Wie effektiv das genutzt wird, ist nicht zu übersehen. Ebenfalls schwer zu übersehen sind derzeit die orangefarbenen Schildchen, mit denen die Gemeinde die "herrenlosen Fahrräder" an den Radlständern markiert hat, um ihnen eine Gnadenfrist bis 22. April einzuräumen.

Dann werden sie zum Radlramadama vom Bahnhof zum Bauhof gebracht. Im Anschluss sind sie dort bis 17. Mai abzuholen. Sollte jemanden im Frühling beim Aufräumen die Wehmut packen bei dem Gedanken: "Au ja, da war doch was. Ich bin doch mal mit dem Radl zum Bahnhof gefahren." Dem sei gesagt: Noch ist es nicht zu spät.

© SZ vom 01.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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