Landkreis:Lücken schließen

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Bürger gedenken der ersten Deportation aus Eglfing-Haar vor 75 Jahren. (Foto: unk)

In den Kommunen wird an die Schrecken des Krieges erinnert

Von Bernhard Lohr, Landkreis

In Haar, in Pullach und in Hohenbrunn hat sich in diesem Jahr gezeigt, dass es auch 70 Jahre nach Kriegsende möglich ist, frei von hohlen Ritualen an die Schrecken des nationalsozialistischen Terrorregimes zu erinnern. Mehr sogar noch: In den drei Gemeinden gelang es - vielleicht auch gerade dank des mittlerweile großen Abstands - jeweils einen neuen, direkten Zugang zur Ortshistorie zu finden. Zeitzeugen wurden eingebunden, befragt und neue Erkenntnisse traten zutage.

So wurde bei einer Feierstunde am Isar-Amper-Klinikum München-Südost in Haar erstmals in Bayern daran erinnert, dass im Zuge der so genannten Euthanasie Patienten jüdischen Glaubens in den Heil- und Pflegeanstalten gesondert erfasst und in Tötungsanstalten geschickt wurden. Es war eine Vorstufe der im Holocaust bis zur Perfektion geführten systematischen Ermordung von Juden. Rabbiner Meir Levinger fand am 20. September an der Stelle, an der am frühen Morgen vor 75 Jahren ein erster Zug mit 192 Juden in Haar abfuhr, vor Angehörigen der Ermordeten bewegende Worte. "Es ist schwer, hier ein Gebet zu sprechen", sagte er, und hob zu einem Trauerlied in hebräischer Sprache an. Nicht weit davon entfernt schafft die Gemeinde Haar mit der Klinikleitung zusammen einen Erinnerungsort für alle Opfer der so genannten Euthanasie auf dem früheren Klinikareal. Die Skulptur Restlicht des Künstlers Werner Mally wurde im Dezember an einem vorläufigen Ort vor dem Rathaus aufgestellt.

Wie nah die Ereignisse von vor 70 Jahren und noch länger zurück rücken, wenn man genau hinschaut und das einzelne Schicksal betrachtet, zeigte sich vor allem auch in Pullach, wo die Historiker Susanne Meinl und Markus Mooser die Ereignisse des 19. Juli 1944 rekonstruierten. Seit Jahren wurde in Pullach der 29 Opfer eines Fliegerangriffs auf die Gemeinde gedacht, unter denen sich auch neun sowjetische Zwangsarbeiterinnen befanden. Das 30. Opfer bekam erst jetzt einen Namen. Der US-Soldat James Greene war Crew-Mitglied eines B 24-Bombers, der damals abgeschossen wurde. Er rettete sich per Fallschirm. Als er auf dem Areal der Armen Schulschwestern landete, wurde er von NSDAP-Funktionären aufgegriffen und ermordet. Ortsgruppenleiter Heinrich Gradl soll sich indirekt zu dem Kriegsverbrechen bekannt haben. Die Gemeinde Pullach nahm die neuen Erkenntnisse zum Anlass, um 70 Jahre nach Kriegsende den Sohn des Ermordeten US-Soldaten, Jim Greene, einzuladen. Eine Woche sollte er in Pullach verbringen und an einer ökumenischen Andacht am Volkstrauertag im November teilnehmen. Doch am Flughafen in Houston, wo der Texaner auf den Anschlussflug nach Deutschland wartete, erlitt der 71-Jährige einen Herzinfarkt und starb. Er hatte seinen Vater nie kennen gelernt. Historiker gehen davon aus, dass in den letzten Kriegsjahren in Deutschland und Österreich etwa 1000 so genannte Fliegermorde gegeben hat. Nur ein Viertel davon wurde aufgeklärt.

Wie notwendig Aufklärung auch 70 Jahre nach Kriegsende noch ist, wie schwierig und fruchtbar solch eine Kärrnerarbeit sein kann, das hat sich in diesem Jahr in Hohenbrunn gezeigt, wo ein Arbeitskreis "Ortsgeschichte von Hohenbrunn 1933-1945" unter fachlicher Begleitung nachgezeichnet hat, was sich in der Heeresmunitionsanstalt der dortigen Wehrmacht (Muna) abgespielt hat. Viele Zwangsarbeiter wurden ausgebeutet. Einige engagierte Bürger begannen erst auf eigene Faust, Archivalien zu durchforsten. Als es darum ging, ob die Gemeinde ihnen finanziell mit einigen Tausend Euro zur Seite stehen würde, folgten kontroverse Diskussionen im Gemeinderat, wo Martina Kreder-Strugalla (Grüne), auch Mitglied des Arbeitskreises, zu Bedenken gab, dass der Arbeitskreis eine Aufgabe erfülle, "die eigentlich Aufgabe des Gemeinderates ist - nämlich eine Lücke in der Geschichte zu schließen". Das Geld wurde dann, bei zwei Gegenstimmen, zur Verfügung gestellt, um die Ergebnisse des Arbeitskreises zu dokumentieren. Bis zu 4000 Arbeiter waren in der Fabrik im Hohenbrunner und Höhenkirchner Wald mit dem Abfüllen von Munition beschäftigt, darunter waren etwa 700 bis 800 Zwangsarbeiter vor allem aus der Ukraine und Russland. Auf Initiative der SPD in Hohenbrunn wurde exakt 70 Jahre nach Kriegsende, am 8. Mai 2015, ein Denkmal enthüllt, das Hilmar Gröger aus Ottobrunn zur Erinnerung an die Ausgebeuteten in der Muna geschaffen hat. "Rassismus und Diskriminierung entgegentreten kann man nur, indem man ein Bewusstsein für die Vergangenheit entwickelt", sagt Gröger.

Dass die Arbeit daran auch mehr als 70 Jahre nach Kriegsende kein Ende findet, zeigt sich dieser Tage in Taufkirchen, wo aktuell mit großem Nachhall in der Bevölkerung darüber diskutiert wird, ob eine Straße nach dem Flugzeugbauer Willy Messerschmitt benannt sein darf. Fast 7000 Zwangsarbeiter beschäftigte er in seinen Fabriken. Ein Ende der Debatte ist nicht in Sicht.

© SZ vom 28.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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