Oberhaching, 18.50 Uhr: Jetzt nur noch sieben Kilometer auf der Landstraße bis Grünwald, dann noch kurz den Isarberg runter und wieder rauf und schon wird man in Pullach sein. Eine Viertelstunde sollte reichen für die paar Kilometer. 19.30 Uhr: Nur noch fünf Kilometer bis Grünwald; wird schon nicht so arg sein, wenn man ein wenig später erscheint. Andere trifft's ja auch. Den Hintermann zum Beispiel, der aber bereits erste Ausfallerscheinungen zeigt und wirre Armbewegungen hinterm Steuer vollführt. Vielleicht plagen auch ihn eine volle Blase und die Frage, wer oder was verantwortlich ist für diese Blechschlange, die sich Richtung Isar windet. Schwerer Unfall? Waldbrand? Terrorfahndung?
Mentale Übungen sollen einem ja helfen, angestaute Wut kontrolliert abzulassen. Zählen und Schätzen hilft immer und ist auch ziemlich entspannend bei Tempo 3. Also: Zwischen der Ausfahrt nach Wörnbrunn und der folgenden Linkskurve passen Stoßstange an Stoßstange ziemlich genau 120 Autos, und es wird geschätzt gar nicht mehr so lange dauern, bis man selbst ausflippt. Die beiden Landstreicher Estragon und Wladimir hatten die Zeit, in der sie auf Godot warteten, nicht mit Zählen und Schätzen verbracht, zum Zeitvertreib erörterten die beiden verschiedene Möglichkeiten des Suizids. Der Hintermann blickt auch bereits auffallend intensiv nach beiden Seiten, wo sich Baum an Baum reiht. Soll man zu ihm gehen und ihn beruhigen? Ihm mitteilen: "Wir haben doch Glück. In Los Angeles stehen die Leute im Schnitt jährlich 104 Stunden im Stau, in München und im Landkreis gerade mal 38." Nein, er würde vermutlich wieder wirre Armbewegungen machen. Und er könnte treffen.
"Testen Sie die DB-Monatskarte", sagt das Autoradio. "Fahr' sofort rechts ran", schreit die Blase. 20.15 Uhr: Links steht das Grünwalder Gymnasium, rechts stehen wir. Nur bei Tempo 0 lässt sich feststellen, dass die Fenster der Schulturnhalle mit genau 23 beweglichen Querlamellen vor Sonneneinstrahlung geschützt werden und der Hintermann kurz vor einer Stau-Psychose steht. Abgeschnallt hat er sich bereits. Aber jetzt schwirrt einem selbst dummes Zeug im Kopf herum, etwa ein Autobahn-Südring, den die Städte und Gemeinden im nördlichen Landkreis seit ewigen Zeiten vergeblich fordern, was die stellvertretende Landrätin Annette Gannsmüller-Maluche jüngst bei der Bürgerversammlung in Unterschleißheim einen "Skandal" nannte.
Jetzt bloß noch im Schneckentempo runter zur Isar und wieder rauf. Nach 105 Minuten am Ziel mit harter Blase, weichem Hirn und einer Frage: Wer oder was hat den Stau verursacht? Antwort aus dem Rathaus Grünwald: Geothermie-Baustellen und Umleitungen an vielen Stellen der Gemeinde. Von Montag, 6. November, an soll's aber wieder zügig gehen.