Krebskrankes Mädchen:"Sogar Schokolade schmeckt mir nicht"

Krebskrankes Mädchen: Nach ihrem Krankenhausaufenthalt ist Rinah (rechts, auf dem Foto mit Schwester Sarah im Sommer) inzwischen wieder zu Hause.

Nach ihrem Krankenhausaufenthalt ist Rinah (rechts, auf dem Foto mit Schwester Sarah im Sommer) inzwischen wieder zu Hause.

(Foto: privat)

Bei der zwölfjährigen Rinah aus Aschheim wurde eine seltene Form von Blutkrebs diagnostiziert. In einem Blog dokumentiert sie ihren Kampf gegen die Krankheit - selbst während der Chemotherapie.

Von Christina Hertel, Aschheim

Patricia Scheer ist erschöpft. Sie ist die Mutter der zwölfjährigen Rinah, die im Frühjahr an Blutkrebs erkrankt ist. Seitdem hat die Familie viel mitgemacht. Die Suche nach dem Knochenmarksspender, Klinkaufenthalte, Chemotherapie. Vor Kurzem durfte Rinah die Klinik verlassen und endlich nach Hause. Und trotzdem ist noch nicht alles überstanden.

Scheer ist eine schlanke Frau Mitte 40. Sie ist attraktiv, hat lange dunkle Haare. Aber sie ist auch ein bisschen blass, ihre Wangenknochen stehen hervor. Im Mai bekam ihre Tochter Rinah die Diagnose Blutkrebs in einer seltenen Form, genannt Myelodysplasie. Bei Blutkrebs vermehren sich entartete weiße Blutzellen unkontrolliert. So wird eine normale Blutbildung verhindert und das Blut kann seine Aufgaben nicht mehr erfüllen, zum Beispiel Infektionen bekämpfen.

Rinah bekam deshalb Blutkonserven, bis ein Knochenmarksspender gefunden war. "Es war klar, dass das nicht ewig so gehen kann", sagt Scheer. Was sie meint: Wenn Rinah keinen Spender gefunden hätten, wäre sie gestorben. Doch die Mutter kann das nicht sagen, sie kann das Wort "Tod" nicht in den Mund nehmen. Sie hätte sich wohl nicht einmal getraut, daran zu denken. "Selbst wenn andere mit mir darüber reden wollten, habe ich das immer weit weggeschoben."

Zur Typisierungsaktion kamen 4000 Menschen

Im Sommer veranstaltete die Deutsche Knochenmarkspenderdatei (DMKS) in Aschheim eine Typisierungsaktion für Rinah. Mehr als 4000 Menschen ließen sich dabei als Stammzellenspender registrieren. Gefunden wurde eine passende Spenderin allerdings nicht hier, sondern in den USA.

Bei einem geeigneten Spender müssen die so genannten HLA-Merkmale übereinstimmen. Das Kürzel steht für Humane Leukozyten-Antigene. Sie sorgen dafür, dass das Immunsystem funktioniert und sie haben eine besondere Struktur. Im Idealfall passen zehn von zehn HLA-Merkmalen zusammen. Doch das ist selten. Laut der DKMS erhält in Deutschland alle 16 Minuten ein Mensch die Diagnose Blutkrebs. Und jeder fünfte Patient findet keinen Spender.

"Gegen acht sind alle gegangen, außer Mama . . . die konnte ich irgendwie nicht so gut gehen lassen. Aber als sie dann fast im Stuhl eingeschlafen ist und ich eigentlich auch ziemlich müde war, habe ich gesagt, dass sie gehen kann. Eigentlich hat das Einschlafen dann auch ganz gut geklappt. Wenn nur nicht dauernd die Apparate piepsen würden ... aber irgendwann gewöhne ich mich bestimmt auch daran." Montag, 12.10.2015

Das schrieb Rinah in ihrem Blog auf der Website, die ihre Mutter eingerichtet hat, um die Typisierungsaktion aufmerksam zu machen. An diesem Tag kam sie ins Krankenhaus, in ein "Zelt", eine Isolierstation. Besuch musste jetzt Mundschutz und Kittel tragen und sich desinfizieren. Überhaupt musste alles abgewischt werden, was zu ihr gebracht wurde. Zeitweise musste Rinah dreimal am Tag gewaschen werden, damit die Chemotherapie die Haut nicht zu sehr angreifen konnte.

"Manchmal liegt sie einfach da, schaut Löcher in die Luft"

"Heute übernimmt die Mama das Tagebuch. Rinah hatte bereits geschrieben, dass sie Angst hat vor der großen Chemo . . . und leider zu recht. Scheinbar ist es ganz unspektakulär . . . es läuft, wie alle Medikamente, über die Schläuche ein . . . aber die Wirkung ist enorm. Innerhalb kurzer Zeit treten die Nebenwirkungen ein. Das Gefühl keine Luft zu bekommen, weil etwas schwer auf der Brust liegt, Fieber, das stetig höher wird, Hautrötungen und Jucken . . . und permanente Übelkeit." Samstag, 17.10.2015

Während der ersten Wochen schlief ihre Mutter in einer sogenannten Elternwohnung ganz in der Nähe. "16, 17 Stunden war ich permanent im Krankenhaus", sagt Scheer. "Es war für mich einfach wichtig, in der Nähe zu sein." Oft ist es so, dass mehrere Eltern erkrankter Kinder in WGs zusammenleben. Scheer hatte eine Wohnung für sich. Mit anderen Eltern tauschte sie sich trotzdem aus. "Es war gut, mit Menschen sprechen zu können, die das gleiche durchmachen wie man selbst."

"Ich kann ihr nichts abnehmen, nur versuchen, Dinge einfacher zu machen und einfach da sein. Seit gestern muss ich auch die Chemohandschuhe anziehen, wenn ich in das Zelt gehe und Kontakt mit ihr haben möchte, aber wenigstens kann ich so ihre Hand halten, ihr Gesicht streicheln und sie ansatzweise knuddeln. Besuch darf Rinah weiterhin bekommen, wir können nur nicht sagen, wie viel sie davon hat. Manchmal liegt sie einfach da, schaut Löcher in die Luft und ihr ist alles egal." Samstag, 17.10.2015

Rinahs Krankheit veränderte den Alltag der Familie komplett. Scheer ist alleinerziehend und arbeitet eigentlich im Vertrieb. Noch bis Anfang Januar ist sie beurlaubt. Ihre Aufgabe, ihr Leben ist Rinah. Auch jetzt noch lässt sie ihre Tochter nicht mehr als zwei Stunden alleine. Zweimal die Woche muss sie ins Krankenhaus für Untersuchungen. Dabei hat Scheer noch eine Tochter. Sie ist 14 und heißt Sarah. Wenn Scheer über sie spricht, nennt sie Sarah "meine Große". Sie lebte einige Zeit bei Freunden, irgendwann beschloss sie lieber alleine Zuhause zu wohnen.

Wie Rinah wieder nach Hause konnte

"Die Kraft geht auch mir langsam aus - der Spagat zwischen Rinah und Sarah, und dabei machen eigentlich alle so toll mit. Sarah war die ganze Zeit unheimlich erwachsen und trotzdem konnte sie ihre Einsamkeit nicht ganz verstecken und Rinah, die immer wieder ein Gespür dafür gezeigt hat, dass auch ich an meine Grenzen komme und Sarah mich auch braucht. Dann kam immer ein kleines Zeichen, besondere Worte und Verständnis und auch mal ein "Geh zu Sarah, sie braucht dich auch" und ich weiß, dass sie dann geweint hat, als ich gegangen bin." Dienstag, 10.11.2015

Eine Bedingung, dass Rinah nach Hause konnte, war, dass sie zunehmen musste. Zeitweise wog das Mädchen nur noch 38,8 Kilo. Über 40 sollten es auf jeden Fall sein.

"Erster Eintrag ganz ohne Mama. Seit drei Tagen geht es mir eigentlich wieder ganz gut. Die Übelkeit ist nicht mehr so schlimm und ich habe keine Schmerzen. Es ist nur blöd, dass ich auch seit ein paar Tagen nicht mehr richtig schmecken kann, also alles schmeckt anders. Dann hab ich immer Lust auf irgendwelche Sachen, aber dann schmecken die nicht ... sogar Schokolade schmeckt mir nicht. Das Einzige, was mir einigermaßen schmeckt, ist Johannisbeerschorle und Apfelschorle. Am Samstag habe ich mir auch die Haare abgemacht ..." Dienstag, 27.10.2015

Scheer konnte die Ärzte überzeugen, dass sie ihre Tochter Zuhause besser aufpäppeln kann. Am 14. November durfte sie die Klinik verlassen. Eigentlich darf Rinah jetzt alles essen, worauf sie Appetit hat. Nur Rohkäse, Rohfisch und rohes Fleisch verträgt ihr Immunsystem noch nicht. Es wurde vor der Transplantation komplett hinuntergefahren und dann mit den Stammzellen der Spenderin neuaufgebaut.

Das Mädchen muss immer noch aufpassen, dass sie nicht krank wird. Sämtliche Impfungen, die sie in ihrem Leben bekommen hat, sind weg. Wenn Rinah das Haus verlässt, muss sie einen Mundschutz tragen. Große Menschenansammlungen muss sie meiden. Scheer hat neue Möbel mit mehr Schubladen gekauft, damit nicht so viel in der Wohnung steht, was Staub ansammeln könnte.

Bis Ostern wird Rinah zu Hause unterrichtet

"Rinah ist sehr, sehr dünnhäutig geworden", sagt Scheer. "Am Ende hatte sie einfach keine Lust mehr auf Krankenhaus." Aber auch jetzt sieht die Mutter ihre Tochter noch manchmal weinen. Wenn sie Einladungen zu Geburtstagen bekommt, wo sie nicht hin darf. Wenn sie hört, dass ihre Theatergruppe auftritt, aber ohne sie. "Alles, was ich sagen kann, um sie zu trösten, sind Floskeln."

Um Ostern herum soll Rinah wieder in die Schule. Bis dahin wird sie in den Hauptfächern Zuhause unterrichtet. Das war schon vor dem Krankenhausaufenthalt so und auch in die Klinik kamen Lehrer. Deshalb kann Rinah dann ganz normal in die siebte Klasse gehen und muss kein Jahr wiederholen. Bis dahin versucht Scheer, so gut es geht, Alltag aufkommen zu lassen. Und deshalb zieht sie jetzt los, Weihnachtsschmuck kaufen.

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