Kirchheim:Mit Handicap ganz nach oben

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Seit einigen Wochen bietet der SV Heimstetten einen Kletterkurs für behinderte Menschen an. Wichtig ist für die Teilnehmer, zu denen auch Nichtbehinderte gehören können, ein Ziel vor Augen zu haben

Von Christina Hertel, Kirchheim

Der Rollator steht am Boden. Und Peter Pointl hängt drei, vier Meter in der Luft - an einer Kletterwand in Heimstetten. Mit der linken Hand hält er sich an dem gelben Stein fest, mit der rechten zieht er sein Bein nach oben, an einem Band, das er vorher um seinen Schenkel schnürte. Es dauert einen Moment, bis er den Tritt findet. Dann geht es weiter. Jetzt muss das linke Bein hoch. Pointl kann es nicht anwinkeln, er schwingt es nach oben. So zieht er sich von Stein zu Stein, immer weiter, ganz hoch. Am Ende ist er sieben Meter über dem Boden.

Peter Pointl hat ein braun gebranntes Gesicht, blaue Augen, graue Haare, Lachfalten. Man kann sich ihn in den Bergen vorstellen oder auf einer Kreuzfahrt durchs Mittelmeer. Aber so leicht ist ein Urlaub für ihn nicht. Peter Pointl hat Multiple Sklerose. 1991, da war er Mitte 30, bekam er die Diagnose. Seit 17 Jahren braucht er einen Stock, seit zehn Jahren einen Rollator. Trotzdem mäht Pointl seinen Rasen selbst - mit der einen Hand hält er sich am Mäher fest, mit der anderen am Rollator. Und er klettert. Auf die Idee, dass der Sportverein in Heimstetten einen Kurs für Menschen mit und ohne Behinderung anbieten könnte, kam er vor etwa einem Jahr.

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(Foto: Claus Schunk)

Am Seil geht es nach oben.

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(Foto: Claus Schunk)

Zuverlässige Seilschaften: Die Sicherung ist beim Kletterkurs ein wichtiger Lehrinhalt.

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(Foto: Claus Schunk)

Alles fest im Griff.

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(Foto: Claus Schunk)

Schritt für Schritt geht es dem Ziel entgegen.

Pointl nahm 2007 an einer Uni-Studie teil, bei der erforscht wurde, inwiefern Klettern Menschen mit MS helfen kann. Aufhalten kann der Sport die Krankheit nicht, aber Pointl spürte, dass ihm das Klettern gut tat. Dass das er sein Gleichgewicht besser halten konnte. Dass er leichter wieder hochkam, wenn er einmal hinfiel. Dass er mehr Energie hatte. Pointl begann, an Kletterkursen in München teilzunehmen. Und als die Halle dort schließen sollte, wandte er sich mit seiner Idee an die Gemeinde Kirchheim, wo er zuhause ist. Die Gemeinde trat mit dem Sportverein in Kontakt und seit einigen Wochen bietet die Kletter-Abteilung des SV Heimstetten immer Freitagabend solche Kurse im High East, einer großen Kletterhalle an der S-Bahn an.

"Ich hab' keine Kraft mehr", ruft Thomas Schuster. Vier, fünf Meter weit ist er gekommen, aber jetzt vor einem kleinen Überhang ist Schluss. "Lass mich runter." Eigentlich heißt Schuster anders, aber weil er gerade auf Jobsuche ist, möchte er seinen richtigen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen. Denn er ist nicht gesund und fürchtet einen Nachteil, wenn ein potenzieller neuer Arbeitgeber seine Geschichte liest. Schuster leidet an Morbus Bechterew, einer besonderen Art von Rheuma, das dazu führt, dass die Wirbelsäule versteift und verknöchert. Es gibt kein Medikament, das ihn heilen könnte. Doch Bewegung hilft, die Wirbelsäule zu lockern. Manchmal aber hat er einfach keine Lust auf Rückenübungen und Krankengymnastik. Beim Klettern ist es anders. Er hat ein Ziel vor Augen und Freunde, die ihn anspornen. "Wenn ich den anderen zuschaue, dem Peter zum Beispiel, wie er kämpft und sich anstrengt, denke ich mir immer, dass ich mich nicht so anstellen darf, dass ich weitermachen muss." Aber das ist nicht immer leicht. Die Krankheit ist mit Schmerzen verbunden, selbst wenn Schuster sagt, dass er sie inzwischen gar nicht mehr spürt. Und auch sein Äußeres hat sich verändert - er hat einen kleinen Buckel.

Der Rollator bleibt am Boden. Kursleiterin Petra Kolb zeichnet dafür verantwortlich, dass die jungen wie älteren Kraxler gut gesichert ihrer Leidenschaft nachgehen. (Foto: Claus Schunk)

Bei dem Kurs können auch Menschen ohne Behinderung mitmachen. Das Ziel ist für alle das gleiche: ganz nach oben zu kommen. Und der Weg auch - nur geht es bei dem einen schneller, bei dem einen langsamer. "Jeder muss es alleine schaffen", sagt Petra Kolb vom SV Heimstetten, die den Kurs leitet. "Ich ziehe keinen hoch." Sie kann nur von unten soufflieren, wo es lang geht. Fuß nach rechts, Hand nach links, solche Dinge. Jeder, der an dem Kurs teilnehmen möchte, muss in den SV Heimstetten eintreten. Das kostet 95 Euro im Jahr. Dazu kommt eine Gebühr für den Kurs und die Halle von 104,50 Euro für elf Termine.

"Zieh, du schaffst es", feuert Thomas Schuster eine Kletterkollegin von unten an. Gerade hängt sie an dem Übergang, wo es für ihn vorhin nicht weiterging. Man merkt: Er fiebert mit ihr mit. Genauso wie die Trainer. "Setz dich kurz ins Seil, mach eine Pause", ruft Michael Weigel einem Jungen zur, der nicht mehr weiterkommt. "Aber ich glaube, du kommst noch weiter."

Und Peter Pointl, der Mann mit der MS-Erkrankung? Er hat sich auf einen Stuhl gesetzt. Kurz ausruhen. Wie ist es, zu sehen, dass die anderen schneller sind, als man selbst? Er blicke nicht zurück, auf das, was mal war, was er früher einmal konnte und heute nicht mehr, sagt Pointl. Bringt ja nichts. "Ich mache auch Yoga. Und mein Sonnengruß ist auch kein richtiger Sonnengruß. Aber ich stelle es mir halt vor, dass es einer ist." Und, wenn dann doch mal etwas geht, was er vor ein paar Wochen nicht mehr konnte, freut er sich. Zum Beispiel, wenn er es beim Yoga schafft, einen Schneidersitz zu machen. Oder die Kletterwand hochzukommen. Sieben Meter hoch.

Wer Interesse hat, an dem Kletterkurs teilzunehmen, kann sich bei Petra Kolb unter Telefon 089/93 93 29 19 melden.

© SZ vom 19.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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