Kirchenasyl in Kirchheim:Der Käfig ist offen

Kirchheim, Cantate-Kirche, Martin-Luther-Straße 7: Irakisches Ehepaar, das dort in der Kirche Kirchenasyl bekommen hat.

Die arabische Bibel und ein Foto von ihrem toten Sohn waren die beiden wichtigsten Dinge, die Namir Al Kajachi und Enam Sabag auf ihre Flucht mitnahmen.

(Foto: Florian Peljak)

Die Eheleute Namir Al Kajachi und Enam Sabag, Flüchtlinge aus dem Irak und Christen, haben sechs Monate lang im Kirchenasyl in der Cantate-Kirche in Kirchheim gelebt. Jetzt dürfen sie einen Asylantrag stellen und hingehen, wo sie wollen.

Von Christina Hertel, Kirchheim

Auf ihrer Flucht trugen Namir Al Kajachi und seine Frau Enam Sabag immer zwei Dinge bei sich: ein Foto ihres Sohnes und die Bibel. Fast immer blieb das Buch im Rucksack, dass es da war, gab ihnen trotzdem Kraft.

Namir Al Kajachi und Enam Sabag sind katholische Christen aus dem Irak. Die Bibel steht jetzt aufgeschlagen auf dem Regal, angelehnt an einen Tischnotenständer. So, dass man immer hineinschauen kann. Gleich daneben ist eine Bar, davor Hocker, gegenüber stehen Ledercouches. Al Kajachi und Sabag leben im Jugendcafé in der evangelischen Cantate-Kirche. Sie haben hier Kirchenasyl bekommen. Und das heißt, das Paar durfte sechs Monate lang das Gelände der Kirche nicht verlassen. Jetzt ist diese Zeit vorbei. An diesem Montag fahren sie nach Hannover, und dort wird ihr Asylantrag weiterbearbeitet.

Draußen hätte de Polizei das Ehepaar jederzeit festnehmen können

Vor Ablauf dieser sechs Monate hätten Al Kajachi und Sabag außerhalb des Kirchengrundstücks jederzeit von der Polizei festgenommen werden können. Deutschland hätten sie dann wohl sofort verlassen müssen. Denn das Paar betrat europäischen Boden zum ersten Mal in Spanien. Dort wurden die beiden registriert, dort gaben sie ihren Fingerabdruck ab. Nach dem Dublin-III-Abkommen bedeutet das, dass dort ihr Asylantrag bearbeitet werden muss.

Die beiden wollten aber unbedingt nach Deutschland, weil hier ihre Tochter Ruth und noch viele andere Verwandte leben. In Spanien wären sie ganz alleine gewesen, wahrscheinlich viele Jahre lang. Durch das Kirchenasyl wurde das verhindert. Nach sechs Monaten kann ein neuer Asylantrag gestellt werden - unabhängig vom Dublin-Verfahren. Und diese Zeit ist jetzt gekommen.

Das Kirchenasyl hat eine jahrhundertealte Tradition, aber erst in den vergangenen 30 Jahren hat sich daraus eine Art Institution entwickelt, die seit ein paar Jahren immer wichtiger wird. Organisiert sind die Gemeinden, die dazu bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen, in der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche. Sie berät die Gemeinden rechtlich und theologisch. Für Bayern ist Stefan Theo Reichel zuständig. Er sagt: "Dass man Fremden helfen soll, steht in der Bibel, in Matthäus 25. Und das Kapitel ist ebenso wichtig wie die Zehn Gebote." Darin steht, dass ein Christ Hungrigen zu Essen und Durstigen zu Trinken geben soll. Und Fremde aufnehmen.

Al Kajachi ist ein höflicher Mann. Der Pfarrerin Susanne Kießling-Prinz hält er die Tür auf. Als sie sich hinsetzen will, rückt er den Stuhl zurecht. Und beim Verabschieden verbeugt er sich ein wenig. Al Kajachi wirkt auch wie fröhlicher Mann. Weil er viel lacht und sein Lachen trotzdem nicht falsch klingt. Doch er sagt: "Ich habe immer Pech gehabt."

Er und seine Frau lebten als katholische Christen in Bagdad, Irak. Er betrieb ein Geschäft für Autoöle, sie arbeitete für die Stadt. Bis vergangenes Jahr hofften sie, bleiben zu können. Sie hofften, obwohl ihr Leben schon lange nicht mehr sicher war, obwohl viele Freunde und Verwandte tot oder geflüchtet waren. 2010 stürmten islamistische Terroristen die katholische Kathedrale von Bagdad. Sie töteten fast 70 Mitglieder der Gemeinde. Danach wurden Al Kajachi und Sabag bedroht, einmal erhielten sie einen Brief mit einer Patrone. Sie hätten das wohl ausgehalten, aber dann wurde ihr Sohn von einer Autobombe getötet. Ihre Tochter Ruth war zu der Zeit schon in Deutschland.

Die Tochter lebt in Mönchengladbach

Ruth ist 26 und lebt in Mönchengladbach. Zweimal hat sie ihre Eltern in Kirchheim besucht. Das war für Al Kajachi und Sabag die schönste Zeit. "Beim Abschied flossen viele Tränen", sagt die Pfarrerin Kießling-Prinz. Sabag versucht zu lachen, aber ihre Augen werden glasig. Schnell wischt sie die Tränen weg. Am Montag ist auch der Tag, an dem sie und ihr Mann ihrer Tochter wieder ein Stück näher sind. Dann fahren sie nach Hannover, dann trennen sie keine sechs, sondern nur noch drei Stunden Autofahrt.

Einfach zu ihr ziehen, geht nicht. Denn damals, als das Paar nach Deutschland kam, stellte es in Niedersachsen seinen Asylantrag. Deshalb ist das Ausländeramt dort für das Paar zuständig, auch jetzt noch. Nach Kirchheim kamen sie, weil Sabags Neffen die Pfarrerin Kießling-Prinz kannten und weil sie für das Paar keinen anderen Weg als das Kirchenasyl sahen. In Nordrhein-Westfalen oder in Niedersachsen fanden sie keine Kirche, die dazu bereit gewesen wäre.

Der Pfarrerin geht es um Hilfe im Einzelfall

Dem Asyl muss der Kirchenvorstand der Gemeinde zustimmen. Auch die Cantate-Kirche hätte nicht jeden Flüchtling aufgenommen. "Wir haben ausgemacht, dass wir immer den Einzelfall betrachten", sagt Kießling-Prinz. Auch Stefan Theo Reichel, der das Kirchenasyl in Bayern koordiniert, rät, nur die wirklichen Härtefälle anzunehmen. "Die Kirchen sind keine Sozialhilfeorganisation für Flüchtlinge." Aber es gebe eben immer wieder Fälle, wo die Lücken im Flüchtlingsrecht deutlich würden und wo es gut sei, dass die Kirchen helfen könnten.

Bei den meisten geht es, wie bei Al Kajachi und Sabag, um das Dublin-III-Abkommen. Von 297 Kirchenasylen, die bis Anfang September registriert wurden, waren nur rund 35 keine solchen Dublin-Fälle. "Traumatisierte Menschen werden nach Ungarn, Bulgarien, Rumänien oder Italien zurückgeschickt - immer noch", sagt Reichel. In den Balkanländern bedeute das Gefängnis, in Italien ein Leben auf der Straße. Deutschland hat im vergangenen Jahr 4800 Menschen in andere europäische Länder überstellt, geplant waren mehr als doppelt so viele. Doch oft tauchten die Flüchtlinge unter.

Reichel weiß, dass er oder das Kirchenasyl die Probleme der Dublin-Verordnung nicht lösen können. Aber er will in Einzelfällen helfen, und oft gelingt das auch: Fast alle Flüchtlinge in Kirchenasyl bekommen danach ein richtiges, geordnetes Asylverfahren, und 90 Prozent von ihnen dürfen bleiben. Zahlen, die aus Reichels Sicht beweisen, dass er Recht hat. Zahlen, die aussagen, dass sich die Kirche eben wirklich nur auf die Härtefälle konzentriert. Aber wann ein solcher Härtefall vorliegt, muss die Gemeinde selbst entscheiden.

"Es hat die Gemeinde wirklich belebt"

Kießling-Prinz weiß nicht, was mit Al Kajachi und seiner Frau passiert wäre, hätte sie die beiden nicht aufgenommen. Sie will es auch gar nicht wissen. Die Pfarrerin weiß nur: Als die zwei in Kirchheim ankamen, waren sie vor allem eins, nämlich erleichtert. Die Gemeinde half damals, Vorhänge aufzuhängen, Tische, Stühle und Schränke aufzustellen - alles damit der Jugendraum weniger nach Café und mehr nach Wohnung aussieht. Danach war dort fast immer etwas los: Es kam Besuch von Verwandten, im Sommer wurde gegrillt, Leute kamen zum Deutsch Lernen und zum Karten Spielen vorbei. "Es hat die Gemeinde wirklich belebt."

Kirchheim, Cantate-Kirche, Martin-Luther-Straße 7: Irakisches Ehepaar, das dort in der Kirche Kirchenasyl bekommen hat.

Heiliges Buch steht auf der arabischen Bibel der Flüchtlinge.

(Foto: Florian Peljak)

Trotzdem war das Ganze nicht einfach. Kirchenasyl heißt auch, dass es vom Staat kein Geld mehr gibt und dass die Menschen nicht mehr krankenversichert sind. Die Gemeinde hat zwar viel gespendet, und im Notfall wäre das Paar wohl in einem Krankenhaus behandelt worden, aber gleich den nächsten Flüchtling aufnehmen will Kießling-Prinz nicht: "Es war eine intensive Zeit, aber das soll kein Dauerzustand sein. Doch natürlich kommt es auf den Einzelfall an." Jetzt soll erst mal wieder Alltag einkehren. "Das Verabschieden ist ja auch schwer. In der Zeit ist man sich nah gekommen."

In Bayern gibt es besonders viele Fälle von Kirchenasyl

Das, was die Cantate-Kirche erlebt hat, haben schon sechs oder sieben Kirchengemeinden im Landkreis München mitgemacht, schätzt Reichel. Vielleicht auch mehr. Zum Schutz der Flüchtlinge machen die Gemeinden es oft nicht öffentlich, wenn jemand bei ihnen unterkommt. Momentan leben in ganz Deutschland mindestens 452 Personen in Kirchenasyl. Die meisten davon in Bayern, wo 2014 fast ein Drittel von ihnen lebte. Die Zahl der Kirchenasyle rund um München jedoch sei eher gering, sagt Reichel. In Franken zum Beispiel seien die Gemeinden aktiver.

Warum sich gerade die bayerischen Kirchen so engagieren, hat aus Reichels Sicht mehrere Gründe. "Die Verwaltungsgerichte sind in Bayern sehr viel restriktiver und schieben auch eher in Länder wie Bulgarien oder Ungarn ab." Tatsächlich liegt die Quote der Ablehnungen in Bayern bei rund 44 Prozent und ist damit rund sechs Prozent höher als im Bundesdurchschnitt. "Außerdem sind die Helferkreise in Bayern sehr aktiv." Und in Sachsen zum Beispiel gibt es ganz einfach auch weniger Kirchengemeinden und weniger Menschen, die sich in der Kirche engagieren.

Obwohl die vergangenen sechs Monate, eingesperrt auf dem Grundstück der Kirche, sicher nicht leicht waren, will Al Kajachi nichts Negatives über die Zeit sagen. "Alle haben uns immer geholfen." Schwierig wurde es für ihn und seine Frau erst, als die sechs Monate vorbei waren. Eigentlich war das schon am 25. September. Ein halbes Jahr hat das Paar auf diesen Tag gewartet. Die beiden dachten, sobald er erreicht ist, wären sie frei.

So einfach war es dann aber nicht. Das Bundesamt für Flüchtlinge musste verständigt, ein Anwalt eingeschaltet werden. Es musste erst ein offizieller Brief mit einer Aufenthaltserlaubnis und Bescheid, wo sie jetzt hinsollen, kommen. Das dauerte bis vergangene Woche. Seitdem können sie wieder überall hingehen, wo sie wollen, sie können bei Verwandten übernachten und einfach durch den Ort spazieren. Al Kajachi sagt: "Ich fühle mich wie ein Vogel, den man endlich aus dem Käfig gelassen hat."

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