Integrationsarbeit an Schulen:Im Unterricht angekommen

Integrationsarbeit an Schulen: Auf dem Weg: Familien flüchten aus den Kriegsgebieten der Welt und hoffen auf eine bessere Zukunft in Europa.

Auf dem Weg: Familien flüchten aus den Kriegsgebieten der Welt und hoffen auf eine bessere Zukunft in Europa.

(Foto: afp)

Wie Lehrer und Schüler im Landkreis München Flucht und Krieg thematisieren.

Von Sabine Wejsada

"Jetzt fahren wir gleich an der Traglufthalle vorbei. Hast du die schon gesehen?"

"Nein, aber jetzt muss bald eine Obergrenze her für die Flüchtlinge. Es kommen ja lauter Terroristen, das hat man ja an Silvester in Köln gesehen."

"Was redest du da? Stell dir mal vor, du müsstest bei dem Wetter 3000 Kilometer zu Fuß gehen oder über das kalte Mittelmeer fahren, und dann sagen die Leute, du bist ein Terrorist. Der einzige Terrorist heißt Assad!"

Dieser Dialog hat wirklich stattgefunden und wird in ähnlicher Form vermutlich jeden Tag mehrfach geführt. In den meisten Fällen sind es Erwachsene, die solche Dinge besprechen und keinen gemeinsamen Nenner finden zu einem Thema, das seit Monaten die Menschen bewegt. Doch hier sind es zwei Kinder, beide elf Jahre alt, die unterschiedlicher Meinung sind.

Das Flüchtlingsthema beschäftigt auch sie. Kinder und Teenager hören ihre Familien diskutieren, sie nehmen Ansichten an, die am Esstisch von den Großen serviert werden. Sie laufen auf ihrem Weg zum Bus oder in die Bücherei an stummen Verkäufern vorbei und lesen auf den Schürzen, dass es nun langt mit den ganzen fremden Menschen, die ins Land kommen, und von Seehofer, der eine Obergrenze einführen will - oder je nach Haltung der Zeitung, dass Deutschland es schaffen kann, Worte, welche die Bundeskanzlerin ausgegeben hat.

Das Thema Flucht ist in den Schulen angekommen

Die Flucht der vielen Millionen Menschen nach Europa, nach Deutschland, will besprochen werden, zwischen Erwachsenen sowieso, aber ebenso auch zwischen Kindern und Jugendlichen. Zahlreiche von ihnen kennen Gleichaltrige, die Migrationshintergrund haben; viele besuchen Schulen, an denen Übergangsklassen eingerichtet worden sind, in denen Buben und Mädchen, die mit ihren Familien oder im schlimmsten Fall ganz alleine aus Syrien, Afghanistan oder Eritrea geflohen sind, Deutsch lernen. Das Thema Flucht ist mitten in der Gesellschaft angekommen - in den Schulen, ganz gleich welcher Art. Auch im Landkreis München.

Wie gehen die Lehrer mit dem Gesprächsbedarf ihrer Schüler um? Was ist zu tun, wenn Schlagworte wie Obergrenze oder Köln in die Diskussion im Klassenzimmer geworfen werden? Gibt es eine Handreichung für die Lehrkräfte, wie sie solche Debatten moderieren sollen, wann sie einschreiten müssen? Evelyn Sehling-Gebranzig leitet das Staatliche Schulamt im Landkreis München und sagt: "Die Kinder sind natürlich das Sprachrohr ihrer Eltern." Auf diese Weise würden Argumente pro und kontra Flüchtlinge freilich auch in die Schulen getragen. Und diese müssten vorbereitet sein.

Ein Leitfaden hilft Schulen beim Umgang mit Flüchtlingskindern

Das Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München hat einen Leitfaden mit dem Namen "Willkommenskultur - Umgang mit Flüchtlingskindern in den ersten Wochen ihres Schulbesuchs" für die Schulen herausgegeben. Die Einrichtung unterstützt und berät das Bayerische Kultusministerium bei der Weiterentwicklung des Schulwesens. Und muss auf aktuelle Entwicklungen in der Gesellschaft reagieren.

Integrationsarbeit an Schulen: Auf dem Weg: Familien flüchten aus den Kriegsgebieten der Welt und hoffen auf eine bessere Zukunft in Europa.

Auf dem Weg: Familien flüchten aus den Kriegsgebieten der Welt und hoffen auf eine bessere Zukunft in Europa.

(Foto: afp)

Nach den Worten von Schulamts-Chefin Sehling-Gebranzig ist es für Kinder und Jugendliche ganz wichtig, dass sie ihre neuen Mitschüler in den Übergangsklassen kennenlernen. "Warum ist der andere anders?" sei eine Frage, die sehr viele Schüler beschäftige, und das nicht nur dort, wo es Übergangsklassen gibt, sondern im ganzen Landkreis, wo Flüchtlinge Schutz in Unterkünften und Notquartieren gefunden haben. "Ganz wichtig ist es, aufzuklären und Transparenz zu schaffen", sagt Sehling-Gebranzig. Das gemeinsame Lernen schaffe eine neue Lebenswelt, und das für alle: "Wir müssen Verständnis wecken", sagt die Schulamtsleiterin, darüber sprechen, dass Kinder, egal wo sie auch herkommen mögen, ein Recht auf Bildung haben, aber eben auch Pflichten, die man sehr wohl von den Gästen einfordern könne.

Über Flucht wird gesprochen - im Religionsunterricht, in Ethik und Sozialkunde

Schule schafft Normalität und kann mit Gerüchten aufräumen. "Die Lehrer bei uns machen das sehr gut", lobt Sehling-Gebranzig, sie moderieren den Wandel, der sich eben auch in den Schulen vollzieht. So werde das Thema Flucht "fächerübergreifend behandelt". Inwieweit Migration und Integration auf dem Lehrplan stehen, obliege dem jeweiligen Schulleiter. Über Flucht wird gesprochen, im Religionsunterricht, in Ethik und Sozialkunde. Oder auch anderen Fächern, wenn es nötig ist, wenn Kinder und Jugendliche Gesprächsbedarf haben über das, was passiert.

Und offenbar gibt es diesen. Sagt Tanja Pringsheim, die kommissarische Leiterin der Garchinger Mittelschule. Dort gibt es zurzeit drei Übergangsklassen. Seit September lernen 60 Kinder aus Flüchtlingsfamilien dort Deutsch. Selbstredend, dass die Willkommenskultur an der Garchinger Schule hochgehalten wird, dass Flucht aber sehr wohl zum Unterricht gehört, auch wenn es kein fester Bestandteil ist, wie Pringsheim sagt. "Schule ist der Platz, wo über aktuelle Themen gesprochen wird." Und was ist momentan aktueller als die Flucht von Menschen aus den Kriegsgebieten und das Ankommen von Schutzsuchenden in Deutschland.

Manche Eltern sind wegen der Schüler in den Übergangsklassen beunruhigt

Die Kinder würden sehr viel nachfragen, schildert Pringsheim ihre tagtägliche Erfahrung als Lehrerin - und manches Mal plapperten sie auch ganz einfach die Dinge nach, die offenbar daheim gesagt würden. Obergrenze, Terroristen, Köln. Vielfach seien auch Eltern beunruhigt, wegen der Übergangsklassen, und das könne sich auf die Schüler übertragen. "Da greifen wir ein, da klären wir auf, wie es wirklich ist", sagt Pringsheim. Engagierte Lehrer, ehrenamtliche Helfer, die Schüler in den Regel- und Ü-Klassen mit Informationen versorgen, erklären, wie sich die Neuankömmlinge zu benehmen hätten - und auch die jugendlichen Gastgeber. Da geht es auch um den Umgang mit den verschiedenen Medien, den traditionellen und den sozialen.

Verbindungen schaffen. Wo, wenn nicht an der Schule. Für Amtsleiterin Sehling-Gebranzig sind die Pädagogen im Landkreis in ihrem Bemühen um Flüchtlingskinder in den Ü-Klassen, wie es sie auch in Haar gibt, großartig. Und auch darin, dass Debatten zwischen Schülern nicht aus dem Ruder laufen wie vielfach unter Erwachsenen, wenn es um das Flüchtlingsthema geht. Kindern und Jugendlichen fällt die Integration von den "Neuen" gemeinhin nicht schwer - und die Schulen tun ihr Übriges, diese Leichtigkeit des Kennenlernens, des Beschnupperns zu fördern: "Gemeinsamer Sportunterricht, Musizieren, all das hilft beim Gelingen der Eingliederung", sagt Sehling-Gebranzig.

Integrationsarbeit an Schulen: Flüchtlingskinder lernen Deutsch mit Lehrerin Patricia Eder in der Übergangsklasse der Mittelschule Garching.

Flüchtlingskinder lernen Deutsch mit Lehrerin Patricia Eder in der Übergangsklasse der Mittelschule Garching.

(Foto: Natalie Neomi Isser)

Am Garchinger Gymnasium nahmen Schüler am Fest für Vielfalt teil

Und es geht um Information, die sich gut in den Unterricht einbauen lässt. Wenn etwa in Religion darüber gesprochen wird, was ein Junge namens Akim bei seinem Weg nach Europa erlebt, wie es am Garchinger Gymnasium gelehrt wird. Dort nähert man sich dem Thema Flucht nach Auskunft der stellvertretenden Schulleiterin Doris Kosiol nicht nur theoretisch: So haben die Gymnasiasten im Mai 2015 etwa am Fest der Vielfalt teilgenommen - einer Veranstaltung, die von der Stadt zusammen mit dem Kreisjugendring München Land, dem Jugendhaus Profil und dem örtlichen Integrationsbeirat organisiert wurde. In Garching leben viele Menschen, die aus verschiedenen Ländern stammen oder Migrationshintergrund haben. Es wurde natürlich das Miteinander aller Garchinger zelebriert - "denn das, was die Menschen verbindet, ist stärker, als das, was sie trennt", so sagen die Initiatoren.

Bei einem sozialen Tag am Werner-Heisenberg-Gymnasium standen zudem Gespräche mit Flüchtlingen auf dem Programm und die Vorführung von Filmen zum Thema Flucht mit der Möglichkeit, mit Zeitzeugen und Regisseuren zu diskutieren. Doch mit der Theorie allein ist es nicht getan: Die Schüler helfen in der Diakonia München in Trudering, sortieren Kleider für Flüchtlinge und legen auch Hand an. So wurden in Containern in Hochbrück die Spielzimmer von Flüchtlingskindern in Zusammenarbeit mit dem Kreisjugendring verschönert. Information und Erfahrbarkeit, das Treffen mit Flüchtlingen, das Erleben eines gemeinsamen Alltags - all dies hilft Schülern, die aktuelle Situation zu verstehen und sich eine eigene Meinung zu bilden. "Ängste verursachen Konflikte", sagt Tanja Pringsheim, die kommissarische Schulleiterin aus Garching. Und gerade die brauche es nicht, schon gar nicht zwischen Kindern.

Weil das Thema bewegt, ist das Interesse am Unterricht gestiegen

Das erkennen bereits die Grundschulen. In Unterföhring zum Beispiel haben Zweitklässler mit der Boardstory von Kirsten Boie "Bestimmt wird alles gut" im Deutschunterricht gearbeitet. In der digitalen Version des Buches wird den Kindern die Situation von Flüchtlingskindern aus der Sicht des syrischen Mädchens Rahaf nahe gebracht, wie Karin Arnold berichtet, die als Religionspädagogin in Unterföhring und Ismaning arbeitet. Zusammen mit ihren Kolleginnen und Kollegen Gerti Goß-Witzenberger, Carmen Pöschl, Franz Grössler (katholisch), Karena Schaffer und Steffi Schwab (evangelisch ) sowie den Ethiklehrerinnen Romana Pollak und Katharina Prucka kann sie berichten, dass das Thema immer vorhanden ist. So habe es bei den Dritt- und Viertklässlern zu Schuljahresbeginn, als die Willkommenskultur am Münchner Hauptbahnhof in allen Kinderköpfen präsent war, viel Redebedarf gegeben. Das Thema laufe "immer im Hintergrund mit und ploppt jederzeit wieder hoch".

Sie seien sensibilisiert bis dahin, dass sie von sich aus Aktionen starten wie die des Knüpfens von Armbändern, die zu Gunsten der Flüchtlinge verkauft wurden, schildert Arnold. "Völlig einleuchtend war den Kindern der Gedanke, dass Christentum nicht verloren geht, weil Menschen mit anderem Glauben kommen - egal wie viele, sondern dass Christentum dann verloren geht, wenn wir nicht mehr Bescheid wissen und den christlichen Glauben nicht mehr leben." Bemerkenswert ist für die Fachlehrerin, dass es in den Klassen in Unterföhring und Ismaning ein solch großes Interesse am Religionsunterricht gebe wie seit Jahren nicht mehr, weil die Inhalte tagesaktuell das eigene Leben widerspiegelten. "Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass jede Stunde mit einem Anfangskreis beginnt, in dem die Kinder Gelegenheit haben, laut oder leise zu beten. Selbstverständlich haben da Paris, die Vorgänge zu Silvester oder eben auch ein Dankeschön für das warme Wetter, damit die Flüchtlinge in der Traglufthalle nicht frieren müssen, seinen Platz. Oftmals ergeben sich daraus Gespräche im Unterricht."

Interessant sei, dass bei den Schülern eher eine Beruhigung eingetreten sei, seit die Flüchtlinge in Unterföhring angekommen sind, sagt die Pädagogin. "Die Kinder scheinen gut vorbereitet auf die Aufnahme von Flüchtlingskindern in die Klassen, sind sehr offen und bereit, sich auf Neues einzulassen." Das lässt hoffen.

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