Heimatlose Glocke in Hohenbrunn:"Sie war im Krieg"

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Bernd Mayr (links) mit den Glockenexperten Gerald Fischer (mitte) und Stephan Zippe. (Foto: Angelika Bardehle)
  • In den Sechzigerjahren entdeckt ein Mann auf einer Baustelle "in München oder dem Umland" eine Glocke im Schutt - und nimmt sie mit nach Hause.
  • Nach einem SZ-Bericht über Glocken in München und Umgebung fiel dem Sohn des Mannes die Glocke ein, die mittlerweile in einer Garage in Riemerling abgestellt worden war.
  • Zusammen mit Experten versucht Bernd Mayr nun herauszufinden, wer die Glocke im Jahr 1776 gegossen hat, und in welchem Glockenturm sie einst ihren Dienst verrichtete.

Von Michael Morosow, Hohenbrunn

Kirchenglocken sind Verkünder. Ihre Botschaften können sie in jeder Sprache der Welt verbreiten, ob sie nun fröhlich zu einer Messe rufen, klagend vom Tod eines Menschen berichten oder freudig die Taufe eines Kindes begleiten. Ihre Zunge ist der Klöppel, ihre weite Öffnung nennt man Glockenmund. Bernd Mayr wäre froh, wenn seine Glocke reden könnte, aber sie hat keine Zunge mehr, der Klöppel ist verschollen. So bleibt es vielleicht für ewige Zeiten ihr Geheimnis, wer sie im Jahr 1776 gegossen hat, in welchem Glockenturm sie einst ihren Dienst verrichtete , von wem und warum sie im hohen Alter im Bauschutt entsorgt wurde.

In den Sechzigerjahren sei es gewesen, dass sein Vater, ein Fuhrunternehmer, die Glocke "auf irgend einer Baustelle in München oder dem Umland" aus dem Schutt gezogen und zu schade zum Wegwerfen befunden hat, sagt der heute 71-Jährige. Ein SZ-Bericht über Glocken im Landkreis München erinnerte Bernd Mayr aus Riemerling wieder an die Glocke, die er vor circa 20 Jahren in die Ecke seiner Garage gestellt hatte, und fand die Zeit reif für eine Spurensuche.

"Sie war im Krieg" - aber: "An Sprung hat's koan"

Ein klarer Fall für Gerald Fischer, den Glockensachverständigen des Erzbistums München-Freising. Dafür, dass Glocken nach ihrer Weihe, außer vielleicht der Mesner, kein Mensch mehr zu Gesicht bekommt, blicken nun viele Augenpaare auf das alte Bronzestück, das Mayr zur Begutachtung auf das Pflaster seiner Einfahrt gestellt hat: Gerald Fischer hat Stephan Zippe, den stellvertretender Diözesanmusikdirektor des Erzbistums, mitgebracht. Dong, dong, dong - nach nur drei Schlägen mit einem gewöhnlichen Hammer gegen den Schlagring der Glocke verkündet Fischer: "An Sprung hat's koan." Ein "nettes Glöcklein" sei es. Und mit einem Blick auf die mit gelber Farbe auf die Flanke geschriebenen Schriftzeichen "C 19/38/361" erkennt der Glockenfachmann: "Sie war im Krieg."

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Und zwar im Zweiten Weltkrieg, als die NS-Schergen den Kanonendonner mehr schätzten als das Friedensgeläut und 90 000 Glocken von den Kirchtürmen holen ließen. Die meisten landeten auf einem von mehreren "Glockenfriedhöfen" wie dem in Hamburg-Veddel, um dort eingeschmolzen zu werden. Mayrs Bauschutt-Fund rettete offenbar das "C" vor dem letzten Gang in den erwähnten Sammelplatz im Hamburger Freihafen. Die NS-Behörden klassifizierten die Glocken in Typen A, B, C und D. Die Typen C und D repräsentierten historisch wertvolle Glocken, wobei Typ C in "Warteposition", Typ D vor jedem Zugriff geschützt war.

Zu leicht für eine große Kirche

Warum also hat Mayrs Glocke die Nazis überlebt und wurde, obwohl schützenswert, schließlich wie ein verrosteter Eimer in den Bauschutt geworfen? "Die hat mal jemand geweiht und gesalbt", sagt der Glockensachverständige und Diözesanmusikdirektor Fischer mit ein wenig Ehrfurcht in der Stimme. Aber in welchem Glockenturm hat sie gehangen, als sie noch verkünden durfte? Stand dieser in München, wo der Bauschutt wahrscheinlich aufgeladen wurde? Oder wird in einer Pfarrei im Landkreis seit vielen Jahrzehnten eine Glocke vermisst? Eine große Kirche scheidet aus, dazu ist die Glocke mit mageren 25 Kilogramm zu leicht. Hing sie in einer Hauskapelle eines wohlhabenden Bauern? Dazu wiederum ist sie zu schwer. Als Sterbeglöckchen diente sie wohl nicht, "bei Sterbeglocken ist immer der Heilige Joseph abgebildet", erklärt Gerald Fischer.

"Wahrscheinlich hing sie in einer richtigen Kapelle", mutmaßt er, und zwar als Einzelglocke. Für ein Geläut sei sie zu klein. Ziemlich sicher war diese Kapelle Petrus und Paulus geweiht. Die Bildnisse beider Apostel prangen erhaben auf der Glockenflanke, Petrus ist mit zwei Schlüsseln abgebildet. "Das hab' ich noch nie gesehen", wundert sich Fischer. Gegenüber sieht man den gekreuzigten Christus. Auf dem Wolm, dem unteren Teil des Mantels, liest man "IKS" und das Gussjahr 1776. Das "K", so klärt Fischer auf, ist in Wirklichkeit ein "H", dessen Steg beim Gießen verrutscht ist. "IHS", das gibt einen Sinn, steht es doch für das Monogramm Jesu.

Sieht aus wie "IKS", tatsächlich steht da aber "IHS" - und das Gussjahr: 1776. (Foto: Angelika Bardehle)

Das Fehlen des Klöppels sei schade, dafür aber seien Krone und Bügel sehr schön und noch dazu heil. "Man könnte sie sofort aufhängen", sagt Fischer und kündigt an, er werde sich die Auflistung aus dem Jahr 1913 anschauen, in der alle Kirchenglocken der Erzdiözese aufgeführt sind. Die Nachschau führte indes zu keinem Treffer. Als der Experte die Glocke ein wenig zur Seite kippt und ihr in den Glockenmund schaut, insbesondere den Schlagring betrachtet, erkennt er sofort: Da sieht man nicht viele Anschlagpunkte, die hat nicht viel geläutet."

Was ein neuer Klöppel kosten würde

Jetzt glaubt sich Bernd Mayr an ein weiteres Detail zu erinnern, das bei der Spurensuche behilflich sein könnte. "Es könnte sein, dass sie mit dem Bauschutt aus der Münchner Innenstadt in eine Grube in Ismaning gekippt worden ist" , sagt er und stützt sich für die Fotografin mit beiden Armen auf die Glockenkrone. "Sehr runde Schultern", schwärmt Andreas Fischer, und schmeichelt damit nicht Bernd Mayr - sondern der Glocke.

Dem Riemerlinger wäre es am liebsten, wenn das Glöckchen wieder einen Namen bekäme und dorthin zurückgebracht würde, wo sie 1776 aufgehängt worden ist. Wenn dies nicht gelingt, dann wäre er auch offen für Anfragen von Pfarreien, die für seine Glocke eine Verwendung hätten, vielleicht in einer Kapelle, der das Geläut abhanden gekommen ist. Aber noch fehlt ihr der Klöppel. Ihn zu ersetzen, so schätzt Gerald Fischer, kostet mindestens 1000 Euro. "Man müsste oben ein Gewinde reinschneiden", weiß der Sachverständige.

Bernd Mayr hat das Fundstück wieder in seine Garage zurückgestellt. Bei schönem Wetter fährt er gerne zum Feurigen Tatzelwurm, wo er eine Almhütte besitzt mit Blick auf den Wilden Kaiser, aber auch auf weidende Rindviecher, die Tag und Nacht ein Kuhglockenkonzert geben, und ihn von nun an ständig an sein stummes Findelkind erinnern.

© SZ vom 25.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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