Höhenkirchen-Siegertsbrunn:Allein mit dem behinderten Enkel

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Nach einer Reihe von Schicksalsschlägen ist Erwin H. die wichtigste Bezugsperson für einen 22-Jährigen - und selbst krank

Von Claudia Wessel, Höhenkirchen-Siegertsbrunn

"Opa, wann holst du mich ab?" Das fragt Carsten (alle Namen geändert) in letzter Zeit immer wieder. Doch Erwin H., 73, kann den 22-jährigen behinderten Carsten in nächster Zeit nicht abholen. Denn jetzt muss er erst mal selbst ins Krankenhaus.

Es ist ein Zufall, dass Erwin H. nun auch ein Hirndruckventil bekommen wird, genauso wie sein Enkel eines hat. "Es gibt Probleme mit dem Gehirnwasserfluss", erklärt der 73-Jährige. Welche Probleme das sind, zeigt sich auch im Gespräch. Erwin H. fängt mitunter an einer Stelle der Geschichte an und macht dann an einem Punkt weiter, der eigentlich vorher passierte. "Ach, habe ich das noch nicht gesagt?" Leider komme er durch seine Erkrankung immer wieder durcheinander, sagt er selbst. "Es ist so unangenehm, wenn man das Problem noch erkennt, aber keine Lösung weiß." Anfangs dachten die Ärzte, Erwin H. hätte Parkinson, doch weitere Untersuchungen ergaben die neue Diagnose. Im Klinikum Großhadern wird man ihn wenige Tage nach dem Gespräch operieren.

"Ich habe viel Pech gehabt, aber auch viel Glück", so fasst Erwin H. zusammen, was sich im Laufe seines Lebens alles ereignet hat. Glück war beispielsweise, dass er nach seiner ersten Ehe noch einmal eine Frau kennengelernt hat, mit der er viele Jahre zusammen glücklich war. Pech war, dass diese an Bauchspeichendrüsenkrebs erkrankte und vor vier Jahren starb. Pech war auch, dass die Tochter seiner Frau nur fünf Wochen nach der Geburt ihres Sohnes Carsten einen tödlichen Autounfall hatte. Das Baby Carsten überlebte mit einem Hirnschaden. Anfangs versuchte der Vater, sich um das Kind zu kümmern. "Doch man hat schnell gesehen, dass das nicht funktioniert", erzählt Erwin H..

Erwin H. mit Fotos seines heute 22 Jahre alten Schützlings. (Foto: Claus Schunk)

Es war Glück und etwas "das wir nie bereut haben", sagt er, dass er und seine Frau einer Meinung waren, als es darum ging, Carstens weiteres Leben zu regeln. "Wir haben ihn zu uns genommen", sagt Erwin H.. Aus dem reifen Liebespaar wurde somit über Nacht ein junges Elternpaar, und noch dazu das eines behinderten Kindes. Man habe die Aufgabe gemeinsam gut bewältigt, sagt der ehemalige Hotel-Angestellte tapfer, der im Alter von 56 Jahren entlassen wurde. Doch auch das interpretierte er seinerzeit eher als Glück, denn so konnte seine Frau in ihrem kleinen Druckereibetrieb arbeiten und er sich um Carsten kümmern. Wann immer - und das war sehr oft - der Junge ins Krankenhaus oder zum Arzt musste, begleitete ihn der "Opa".

Doch auch wenn Erwin H. sich bemüht, die Vergangenheit im guten Licht zu schildern, es gab auch sehr schwere Zeiten. Mit dem behinderten Kind konnte man nur wenig unternehmen, man stieß oft auf Unverständnis von Mitmenschen, man hatte nicht mehr die Kraft, die junge Eltern eher aufbringen. Damals hörte das Ehepaar vom "Arbeitskreis Eltern behinderter Kinder" in Neubiberg. Regelmäßig besuchten sie den Stammtisch, lernten andere Betroffene kennen und unternahmen mit den Mitgliedern viele Ausflüge. Das habe ihren Alltag sehr erleichtert, sagt Erwin H..

Bevor seine Frau starb, regelte sie noch gemeinsam mit Erwin H. die Zukunft des Enkels. Sie konnten Carsten in einer anthroposophischen Einrichtung in München unterbringen, wo er langfristig leben kann. Wie gut das war, zeigt sich jetzt, wo auch Erwin H. vorläufig ausfällt. Er hofft aber, Carsten bald wieder für die regelmäßigen "Heimfahrwochenenden" nach Hause holen zu können. Vor allem, weil auch der Vater des Jungen, der inzwischen wieder Kontakt zu seinem Sohn pflegt, krank ist.

© SZ vom 30.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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