Haar:Flüchtlinge damals und heute

Haar, Haus der Donauschwaben, Donauschwabe, der die Flucht miterlebt hat, und darüber auch noch erzählen kann.

Paul Beiwinkler war ein kleiner Junge, als er fliehen musste.

(Foto: Angelika Bardehle)

Die Donauschwaben mussten nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihrer Heimat fliehen.Sie blicken auf die schweren Zeiten in der neuen Heimat zurück, sehen aber Unterschiede zu den Schutzsuchenden von heute.

Von Christina Hertel

Eine Mutter flüchtet mit ihren beiden Kindern. Sie rennen um ihr Leben. Hinter ihnen bewaffnete Männer, vor ihnen eine Brücke. Sie müssen nur hinüber, dahinter irgendwo ist die Freiheit. Doch dann fällt eines der beiden Kinder die Brücke hinunter, in den Fluss. Was soll die Frau tun? Wenn sie stehen bleibt, werden sie und ihr anderes Kind auch getötet. Nicht von der Strömung, aber von einer Kugel. Also geht sie weiter, immer weiter, bis sie irgendwann in Deutschland ankommt.

Diese Geschichte spielt nicht in Syrien und auch nicht im Irak. Sie passierte vor 70 Jahren in Serbien. Und die Mutter, die ihr Kind ertrinken lassen musste, war eine Deutsche. Hermann Schuster erzählt das.

Die bayerischen Donauschwaben haben in Haar ein Museum aufgebaut

Es ist nicht seine eigene Geschichte, aber auch er hat eine Flucht hinter sich. Damals war er drei Jahre alt, er kann sich an nicht mehr viel erinnern. Heute ist er 78 und Vorsitzender der Donauschwaben in Bayern. In Haar haben sie ein Museum aufgebaut, und dort sitzt er hinter seinem Schreibtisch, in einem blauen, faltenlosen Jackett.

Die Donauschwaben sind Deutsche, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus Ungarn und Rumänien vertrieben wurden. Wenn Schuster heute die Bilder von den Flüchtlingen in den Nachrichten sieht, geht ihm das nahe. Trotzdem sagt er, dass man die Situation damals nicht mit der heute vergleichen könne. "Klar, Leid gibt es damals und heute. Die Umstände sonst waren aber ganz andere."

Haar: Mit Pferden und Wagen transportierten die Vertriebenen ihr Hab und Gut.

Mit Pferden und Wagen transportierten die Vertriebenen ihr Hab und Gut.

(Foto: Claus Schunk)

Das sieht auch Paul Beiwinkler so. Er ist der zweite Vorsitzende der Donauschwaben. Beiwinkler ist ebenfalls 78 Jahre alt und hat in seinem Leben viel erlebt. Bis er nach Deutschland kam, vor allem viel Schlechtes, wie er sagt.

Etwa 300 Jahre lebten die Donauschwaben in Südosteuropa. Sie siedelten sich im 18. Jahrhundert dort an, nachdem das Kaiserreich Österreich-Ungarn einen Krieg gegen das Osmanische Reich gewonnen hatte. Damals gab es einen kaiserlichen Beschluss, das leere und wüste Gebiet wieder zu besiedeln. In der Folge zogen nicht nur Schwaben, sondern auch Franken, Pfälzer, Thüringer und viele weitere Gruppen auf den Balkan.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Deutschstämmigen vertrieben

Donauschwaben wurden sie genannt, weil sie mit Booten die Donau entlang fuhren, um ihre neue Heimat zu erreichen. 1,5 Millionen von ihnen lebten bis 1900 dort. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurden alle kollektiv für die deutschen Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht.

Niemand unterschied zwischen Tätern, Mitläufern, Verweigerern und Widerstandskämpfern. Es wurden pauschal alle Deutschstämmigen entrechtet, enteignet, vertrieben, oft auch getötet. Und Zehntausende wurden in sogenannte Internierungslager gesteckt. Einer von ihnen war Paul Beiwinkler.

Damals war er ein kleiner Junge, acht Jahre alt. "Die Leute sind um mich herum gestorben wie die Fliegen. Es war wie im KZ, nur ohne Gas." Zu Essen gab es nur Brenn- oder Bohnensuppe, ohne Salz und ohne Fett. "Wir mussten manchmal erst die Maden rausholen." Beiwinkler lächelt sogar ein bisschen, wenn er das sagt. Vielleicht ist es Selbstschutz, vielleicht kommt ihm nach all den Jahren das Erlebte absurd vor.

"Gefreut hat sich damals wohl niemand über uns"

Erst 1948, nach drei Jahren, durften er und seine Mutter das Lager verlassen. Doch frei waren sie noch lange nicht. Beiwinklers Mutter musste Zwangsarbeit in einem großen landwirtschaftlichen Betrieb leisten. Bis 1951. "Wir wären dann eigentlich gern nach Deutschland, meine Onkel waren schon da. Aber wir wurden gezwungen, die jugoslawische Staatsbürgerschaft anzunehmen."

Um die wieder abzulegen, musste sich die Familie frei kaufen - mit viel Geld. Bis sie das zusammen hatten, vergingen weitere Jahre. Erst im Februar 1957 erreichten sie Deutschland.

Bis 1950 kamen etwa zwölf Millionen Flüchtlinge in Deutschland an, fast zwei Millionen in Bayern. 68 000 davon waren Donauschwaben. "Gefreut hat sich damals wohl niemand über uns", sagt Schuster, der Vorsitzende der Donauschwaben in Bayern. Er kam anders als Beiwinkler schon 1940 nach Deutschland und sah, wie in den Nachkriegsjahren mehr und mehr Flüchtlinge in ein Land kamen, das selbst in Schutt und Asche lag.

"Jeder musste selber sehen, wo er bleibt." Auch damals gab es Neid und Missgunst zwischen den sogenannten Heimatvertriebenen und denen, die schon immer hier wohnten. "Aber wir konnten die Sprache, wir hatten die gleiche Kultur, den gleichen Glauben", sagt Beiwinkler. "Und wir haben beim Wiederaufbau geholfen, wir haben gezeigt, dass wir arbeiten können."

Arbeit als Schlüssel zur Anerkennung

Beiwinkler sieht das ähnlich. "Wir wussten uns immer zu helfen und haben nicht auf den Staat gewartet. Wir waren keine Parasiten." Fast alle hätten sich ein eigenes Haus gebaut. So entstanden in München mehrere Siedlungen der Donauschwaben. Die in Moosach wurde Mondscheinsiedlung genannt. "Weil wir sie quasi über Nacht errichtet haben."

Er sieht ein, dass die Flüchtlinge heutzutage nicht einfach irgendwo Häuser hinbauen können, dass sie gezwungen sind, abzuwarten. Aber der 78-Jährige ist davon überzeugt, dass die Arbeit damals der Schlüssel zur Integration, zur Anerkennung der Donauschwaben war.

Allein heuer werden wohl 1,5 Millionen Asylsuchende Deutschland erreichen - ein Bruchteil der Flüchtlinge, die nach dem Zweiten Weltkrieg kamen. Hass gibt es trotzdem. "Damals haben alle Menschen ums Überleben gekämpft. Heute haben sie Angst, etwas zu verlieren", sagt Schuster.

70 Jahre nach dem Krieg ist Deutschland ein reiches Land. Und die Menschen kämen, so denkt Schuster, nicht nur hierher, weil sie irgendwie überleben wollen, sondern auch weil sie sich hier eine schönere Zukunft vorstellen könnten. Doch die Hoffnung auf ein besseres Leben trieb auch Beiwinkler nach Deutschland.

Haar: Herrmann Schuster, Vorsitzender der Donauschwaben in Bayern, in der Ausstellung.

Herrmann Schuster, Vorsitzender der Donauschwaben in Bayern, in der Ausstellung.

(Foto: Claus Schunk)

Mit zehn Jahren ging er in Jugoslawien zum ersten Mal zur Schule. "Zeige dich von deiner besten Seite, hat meine Mutter immer gesagt." Diskriminiert, gehänselt oder gehasst wurde Beiwinkler nicht. "Ich war immer der Schwab. Das war alles." Der 78-Jährige spricht fließend Serbisch. Bis er nach Deutschland kam, sprach er nur mit seiner Familie Deutsch - im donauschwäbischen Dialekt.

Einen kleinen Akzent hört man heute noch. Das Ü klingt manchmal wie ein I, das Ö wie ein E. "Ich weiß nicht, ob ich Serbe oder Deutscher bin." Beiwinkler hegt keinen Groll, keinen Hass, gegen die, die ihm seine Kindheit nahmen. "Ich bin Katholik. In der Bibel steht: Herr, sie wissen nicht, was sie tun. Und die in dem Lager wussten das auch nicht."

Mit drei Koffern floh die Familie damals

Im Museum der Donauschwaben in Haar steht ein blauer Koffer. Er ist ein bisschen staubig, die Farbe blättert ab. Es ist einer von drei Koffern, die Beiwinklers Vater für die Flucht seiner Familie baute. "Wenn der sprechen könnte, ach, was könnte der alles erzählen", sagt Beiwinkler und streicht über das Gepäckstück.

Sein Vater wurde damals von Titos Partisanenkämpfern erschossen. Die Leiche an einen Baum gehängt, angezündet und verscharrt. "Die haben ihn in ein Massengrab geschmissen. Gras drüber und weg", sagt Beiwinkler. Wo es liegt, weiß er nicht. Den Vater konnte er nie beerdigen. Vor fünf Jahren machte der Rentner sich noch einmal auf der Suche. Er wollte unbedingt die Stelle finden, an der sein Vater gestorben war. Doch es lebte niemand mehr, der ihm hätte weiterhelfen können.

Auch Besteck seiner Mutter, jugoslawische Briefmarken und Münzen, die Beiwinkler sammelte, sind in dem Museum ausgestellt. Vielleicht, weil er so lange nichts hatte, begann er, Dinge mehr wertzuschätzen als andere. "Ich bin wie ein Hamster, ich sammle alles." Beiwinkler kichert ein wenig. Zu Hause hat er 8000 alte Telefonkarten in Ordnern abgeheftet, in seinem Keller hängen 250 Uhren. Dann wird der 78-Jährige wieder ernst. "Wir Kriegskinder haben die Knappheit gespürt." Pause. "Ich sag immer: Das ganze Leben ist ein Kampf."

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