Haar:Nähkurse im Bunker

Anlässlich ihres 60-Jährigen Bestehens blickt die Volkshochschule auf ihre Anfänge zurück. Ihre ersten Räume fand die Bildungseinrichtung im ehemaligen Heim der Hitlerjugend, das amerikanische Soldaten zuvor bereits für ein Demokratisierungsprogramm genutzt hatten

Von Bernhard Lohr, Haar

Die Volkshochschule Haar (VHS) feiert in diesem Oktober 60-jähriges Bestehen. Doch ihre Wurzeln reichen ideell weiter zurück. Als am 1. Mai 1945 die ersten amerikanischen Panzer in Haar einrollten, endete nach zwölf Jahre Naziherrschaft auch dort die Zeit der geistigen Bevormundung und Indoktrination. Die Soldaten besetzten das unzerstörte, ehemalige Musterheim der Hitlerjugend an der heutigen Friedrich-Ebert-Straße und begannen, von dort aus den Deutschen im Münchner Osten die Vielfalt einer offenen Kultur zu vermitteln. Dass später die Volkshochschule den Nazibau übernahm, hält der heutige Geschäftsführer Alfred Pfeuffer für eine ziemlich passende, eine "tolle Idee".

Und so kann die Tatsache, dass die Amerikaner in Haar ein Demokratisierungsprogramm starteten, Pfeuffer zufolge als Vorgeschichte einer VHS gelten, die sich bis heute einer offenen Gesellschaft verschrieben hat. Die GIs richteten schon kurz nach Kriegsende einen Jugendklub im ehemaligen HJ-Heim ein. Dort fanden Sportveranstaltungen statt. Es gab Ballettaufführungen und Künstler traten auf. Pfeuffer sieht den Elan, den die US-Armee an den Tag legte direkt in Zusammenhang mit den Gräueln der NS-Diktatur. Schließlich hatten die GIs, die nach Haar kamen, kurz zuvor das Konzentrationslager Dachau befreit und wurden in der Heil- und Pflegeanstalt Haar-Eglfing damit konfrontiert, dass die Nationalsozialisten Tausende Psychiatrie-Patienten ermordet hatten.

Viele Deutsche lechzten nach dem Krieg nach der befreienden Wirkung einer vielfältigen Kultur. Etwas sollte es freilich bis zum ersten VHS-Kurs noch dauern. Auf Drängen aus der Bevölkerung erwirkte im Sommer 1957 der Kulturreferent der Gemeinde, Hans Schmucker, dass ein vorbereitender Arbeitsausschuss eingerichtet wurde. Am 17. Oktober bereits gründete der ehemalige Rektor der Volksschule, Friedrich Fischer, die VHS. Kurse gab es in Englisch, Kurzschrift und Erster Hilfe. Zum Jahresbeginn 1958 wurde die VHS Außenstelle der Theatergemeinde München. Im März machte sich schon eine Gruppe aus Haar auf zur ersten Führung durch die Alte Pinakothek. Kulturfilme, und allgemeinbildende Vorträge waren angesagt.

Und schon bald nutzte die VHS das frühere HJ-Gebäude. Das erste Büro, sagt Pfeuffer, sei im Kaminkehrer-Kammerl im zweiten Stock eingerichtet worden, daraufhin dann im ersten Stock eine Geschäftsstelle. Im Untergeschoss, im so genannten Bunker, fanden Nähkurse und auch dann später die ersten Computerkurse statt. Pfeuffer selbst, der 1977 als Kursleiter zur VHS kam, erinnert sich noch selbst an die Bunkertüren, die es dort lange noch gegeben habe. 1999 wurde das Gebäude saniert und der VHS direkt übergeben. Heute betreibt sie dort ihr Gesundheitszentrum.

Die Erwachsenenbildung florierte von Beginn an. Kurz nach der Gründung der VHS zählte der Verein 220 Mitglieder, wobei damals eine Mitgliedschaft bei einem Jahresbeitrag von zwei Mark Voraussetzung war, um an Kursen teilzunehmen. 1959 war man mit 405 Mitgliedern bei 5400 Einwohnern die größte Organisation in der Gemeinde. Gründer Friedrich Fischer wurde zum zehnjährigen Bestehen mit der Bürgermedaille ausgezeichnet. Als er zum Wintersemester 1972/1973 sein Ehrenamt als VHS-Leiter niederlegte, machte diese organisatorisch einen großen Schritt nach vorne. Auf Betreiben von Hans Schmucker wurde mit Marianne Heidegger erstmals eine hauptamtliche Geschäftsführerin bestellt. Die Zahl der Kursteilnehmer vervierfachte sich von 1974 bis 1976. Die Haarer Volkshochschule rangierte in Oberbayern plötzlich unter den Top zehn.

In den Achtzigerjahren ging es dann richtig los mit Computerkursen. Naturschutz wurde ein großes Thema. Ein Ökogarten wurde eingerichtet und ein Ökologie-Programm aufgelegt. Auch nahm das Fach Deutsch als Fremdsprache, das später noch Konjunktur haben sollte, seine Anfänge. Berufsbildende Kurse wurden stark nachgefragt und von 1993 an konnte die VHS nach dem Auszug der Firma Insel-Film aus dem Poststadel-Gebäude dort Werkstätten einrichten. Interkulturelle Arbeit gewann an Bedeutung, gleiches gilt für Tanzprojekte und künstlerisches Gestalten. Plötzlich wurde mit Hammer und Meißel gearbeitet: Einführung in die Steinbildhauerei war ein Kursangebot. 1997 kam die VHS Haar auf 15 000 Einschreibungen für 800 Veranstaltungen in zwölf Fachbereichen. 200 Lehrkräfte wurden beschäftigt.

Diese Zahlen sind bis heute unter dem Geschäftsführer Pfeuffer, der 2001 von Heidegger den Job übernahm, weiter gestiegen; so gibt es etwa 18 000 Einschreibungen im Jahr, ohne Kinder mitzuzählen. Gerade letztere sind aber durch das Engagement der VHS an den vier Schulen in Haar, an denen seit 2004 Angebote der Nachmittagsbetreuung aufgebaut wurden, mittlerweile stark in den Fokus der VHS gerückt. Als symbolträchtiges Ereignis, bei dem wieder ausgerechnet das frühere HJ-Heim eine Rolle spielte, kann die Aufnahme von Flüchtlingen gelten, die im Juni 2015 in der Turnhalle an der Friedrich-Ebert-Straße Quartier bezogen. Deutsch als Fremdsprache ist heute ein eigener Fachbereich, der speziell für Migranten Unterrichtsmodelle anbietet. Im neuen VHS-Zentrum, im neu aufgebauten Poststadel nahm man 2015 unter dem Motto "Erinnern für die Zukunft" den 70. Jahrestag des Kriegsendes zum Anlass, die Bedeutung der Bildung für eine demokratische Gesellschaft herauszustreichen.

Alfred Pfeuffer steht heute einer Bildungseinrichtung vor, deren Relevanz er daran festmacht, wie nah sie an den Menschen und deren Problemen ist. Ein Studium generale vermittelt Allgemeinwissen, eine Kinderuni richtet sich an die Jüngsten. Besonders wichtig ist Pfeuffer das soziale, das weltoffen internationale Profil seiner Einrichtung. 17 Sprachen kann man an der VHS Haar lernen, darunter Bairisch, und dazu natürlich auch Deutsch. Die eigenen Mitarbeiter gingen 2016 über das Erasmus-Bildungsprogramm nach England, um sich dort in "Interkultureller Bildung und Englisch als Brückensprache" weiterzubilden. Das Motto des jetzt anstehenden 60-Jahr-Festes: VHS international.

Die Jubiläumsfeier am Samstag, 21. Oktober, im Bürgersaal verspricht ein bunter Abend zu werden. Los geht es um 18.30 Uhr mit Reden und einer historischen Rückschau. Nach einer Begrüßung in unterschiedlichen Sprachen geht es mit Elektro-Musik, Dark-Wave und World Music weiter. Profi-Balletttänzer treten auf. Der Klavier-Kabarettist Klaus Kohler führt durch den Abend. Der Eintritt ist frei. Die Anmeldung ist unter Telefon 089/46 002 800 oder über die Homepage möglich.

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