Haar:Ein Ort schwerer Verbrechen

In Haar kamen durch die NS-Euthanasie mehrere Tausend Patienten zu Tode

Die Bilder leben fort. Die Erinnerung ist wach. Als wäre es gestern passiert, sind Martha H. die letzten Kriegstage präsent. Die heute 95-jährige Haarerin sieht die Panzer der US-Armee über die Wasserburger Straße rollen. Die Wände ihrer Wohnung wackeln, der Lärm ist ohrenbetäubend. Sie hört Schüsse knallen und sie hat die jungen SS-Soldaten vor Augen, die am Anfang der Leibstraße an einem Zaun am Boden liegen. Nach Schilderungen von Augenzeugen haben sie GIs der US-Armee erschossen. Als eine Erklärung dafür wird immer wieder angeführt, dass die Soldaten, die jetzt in Haar einmarschieren, zwei Tage zuvor das Konzentrationslager Dachau befreit hatten.

Auch in Haar kommen die Amerikaner in einen Ort, an dem unter dem Nazi-Regime im Zuge des sogenannten Euthanasie-Programms schwere Verbrechen verübt wurden. In der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar starben von 1939 bis 1945 etwa 1800 Patienten an Unterernährung. 332 Kinder wurden gezielt getötet. Mehr als 2000 wurden von Eglfing-Haar in Tötungsanstalten geschickt. Am 2. Mai besetzen US-Soldaten die Anstalt, deren Leiter Hermann Pfannmüller wird verhaftet und interniert. Eine Bestrafung Pfannmüllers blieb später freilich so gut wie aus. Er wurde wegen Totschlags zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt, die Strafe wurde in einer Revision auf fünf Jahre reduziert. Martha H. erinnert sich an eine Oberpflegerin aus der Nachbarschaft, die in der Anstalt arbeitete, und die ebenfalls verhaftet wurde. Ihr selbst ist am meisten die "grauenhafte Angst" präsent, die sie in den letzten Kriegstagen spürte. Denunziation sei an der Tagesordnung gewesen. Nazis hätten sich dadurch zu rächen versucht, dass sie andere denunzierten. Eine Geschichte, die in Haar immer wieder erzählt wird, ist das rätselhafte Schicksal des von den Nationalsozialisten eingesetzten Bürgermeisters Hans Gmeinwieser. Horst Wiedemann, langjähriger Gemeinderat und Ortschronist, hat in Erfahrung gebracht, dass dieser sich in einem Hühnerstall versteckt habe, um dem Zugriff der US-Soldaten zu entgehen. Nach der Festsetzung durch die GIs verliert sich dann seine Spur. Gerüchte freilich gibt es genug.

Gerade in den vergangenen Jahren haben die Gemeinde Haar und der Bezirk Oberbayern als Träger des Klinikums München-Ost Anstrengungen unternommen, um das Gedenken an die Opfer der Euthanasie wach zu halten. Der erste Anstoß kam 1990 aus Reihen der Ärzte und Beschäftigten der Klinik, die den 50. Jahrestag des ersten Transports von 25 Patienten in die Tötungsanstalt in Grafeneck am 18. Januar 1940 zum Anlass nahmen, einen Gedenkstein auf dem Klinikgelände zu platzieren. Einen äußerst umstrittenen und laut Horst Wiedemann bis heute noch nicht von allen in der Gemeinde akzeptieren Schritt unternahm das Rathaus, als es durch eine textliche Ergänzung auf dem Kriegerdenkmal an dieser Stelle auch die Erinnerung an die Euthanasie-Opfer zum Gegenstand machte. Und ein weiterer Gedenkort ist im Jugendstilpark, dem früheren Klinikareal, geplant. Dort soll nach letztem Stand im Zuge der Wohnbebauung - der Baubeginn steht noch nicht fest - der Künstler Werner Mally eine Variation seiner "Restlicht"-Skulptur aufstellen.

Auch wenn es immer wieder Warnungen gibt, bei der Gedenkkultur Maß zu halten und nicht zu überdrehen: Horst Wiedemann sieht nicht zuletzt jetzt - da sich das Kriegsende zum 70. Mal jährt - die Gelegenheit, das Thema noch einmal anzusprechen. Es existiert in Eglfing noch die Original-Rampe, von der aus die Züge in die Tötungsanstalten losgefahren sind. Auch Gleisstücke wurden noch aufbewahrt. Im übrigen wollen die FDP und die ÖDP im Bezirkstag einen Anlauf nehmen, um eine Gedenktafel für die Euthanasieopfer im Bezirkstags-Gebäude anbringen zu lassen. Mit einem ersten Antrag im Bezirksausschuss sind sie gescheitert.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: