Grasbrunn:Endgültiger Schnitt

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Ein Leben mit Nadel und Faden: Seit 30 Jahren sitzt Emin Firat jeden Tag in seiner Schneiderei in Neukeferloh. (Foto: Angelika Bardehle)

Emin Firat hat in seiner kleinen Änderungsschneiderei Jahr für Jahr Pakte für die Aktion "Weihnachten im Schuhkarton" gesammelt. Heuer blieben viele Spenden aus - und der 82-Jährige schließt zum Jahresende

Von Christina Jackson, Grasbrunn

Für Emin Firat ist dieses Jahr das letzte in seinem Geschäft. Und vielleicht, so wirkt es, kommt dieses Ende gerade zur rechten Zeit. Seit vielen Jahren sammelt Firat in dem kleinen Laden Päckchen für die Aktion "Weihnachten im Schuhkarton". Stets kamen in den vergangenen Jahren an die 70 Pakete zusammen. "Nur in diesem Jahr läuft es schleppend", sagt der 82-Jährige mit Wehmut in der Stimme.

Einen Monat lang hat er gewartet, dass die Leute ihre Spenden bei ihm abgeben, ehe diese Ende November abgeholt wurden - für Kinder in den krisen- und kriegsgeplagten Länder der Welt, damit auch für sie ein kleines bisschen Weihnachten wird. Für viele Kinder sind diese Pakete das erste Geschenk, das sie überhaupt in ihrem Leben erhalten. Und Firat hat sich jedes Jahr gefreut, mithelfen zu können. Doch heuer blieben die Kartons aus. Deshalb trifft es sich, wie gesagt, vielleicht ganz gut, dass Firat Ende des Jahres auch sein Geschäft schließen wird: die kleine Änderungsschneiderei am Bretonischen Ring in Neukeferloh.

Emin Firat ist ein belesener Mann. Dabei musste er, der in der ostanatolischen Provinz Malatya aufgewachsen ist, 1956 mit gerade einmal zwölf Jahren die Schule verlassen. Sein Vater hatte entschieden, dass der Junge eine Lehre in einer kleinen Schneiderei beginnen sollte. Eine gute Entscheidung. So jedenfalls sieht es der 82-Jährige heute. "Der Beruf ist mein Hobby", sagt er und schaut mit Melancholie im Blick auf die Nähmaschine und das Bügelbrett.

In dem Grasbrunner Ortsteil Neukeferloh pflegte er 30 Jahre lang neben der Arbeit lieb gewordene Rituale wie das Zeitunglesen, das Zigarettenrauchen und hin und wieder ein gutes Gespräch am Verkaufstresen. Momente, die das Leben mit Nadel, Faden und Schnittmustern versüßten. Vielleicht haben sie dafür gesorgt, dass der Schneider auch im hohen Alter wirkt wie ein 50-Jähriger: schlank, agil, mit wachen Augen, an deren Lachfalten das Interesse an Menschen und ihren Geschichten zu erkennen ist.

Dass er nun aufhört, hat irgendwie auch mit der Spendenaktion oder zumindest den Gründen für deren Rückgang zu tun. "Die Menschen geben weniger Geld aus", sagt Firat. Und so, wie sie heuer nicht in seinen Laden kommen, um Spenden abzugeben, kommen sie eben auch nicht, um eine Hose weiten oder einen Rock kürzen zu lassen. Früher sei das anders gewesen, erinnert sich der Schneider. Da brachten die Kunden immer gleich mehrere Kleidungsstücke zum Ändern, weil gute Stücke geschätzt und über viele Jahre getragen wurden. Heute sind Hosen, Jacken und Blusen meist Wegwerfware und nach einer Saison aus der Mode. "Manche Hosen kosten heute 15 Euro. Das lohnt nach Ansicht vieler Leute nicht für eine Reparatur."

Ein Elektroladen wird nächstes Jahr am Bretonischen Ring 9 einziehen. Bis dahin muss die kleine Kammer, in der Firat sein tägliches Ritual mit Zigarette und Zeitung abhält, geräumt sein. Mit schnellen Schritten läuft er auf das Zimmer zu, in dem er sich jeden Morgen um 7 Uhr seine erste Zigarette gönnt und dabei die Titelgeschichten liest. Die türkische Tageszeitung Hürriyet liegt auf dem Tisch. Daneben ein Bücherstapel. Der kurdische Autor Yasar Kemal hat es ihm besonders angetan. Der Schriftsteller verdiente seinen Lebensunterhalt zunächst in einer Baumwollfabrik, war dreimal inhaftiert, das erste Mal mit 17 Jahren - wegen eines Gedichts. In seinen Romanen behandelt er Themen wie Vertreibung und Flucht. Themen, die auch Firat beschäftigen. "Ich wünsche mir insbesondere für die Jungen, dass es Frieden gibt und die Konflikte vor allem in Syrien beendet werden." Umso dankbarer ist er für sein Leben in Deutschland, in Freiheit, Frieden und Sicherheit. Und in Demokratie.

Dass er so lange arbeiten musste, weil seine Rente kaum ausreicht, stört ihn nicht. "Ich habe gern gearbeitet. Aber jetzt schmerzen die Knie und die Schulter." Außerdem seien mit den Jahren viele Freunde entweder in die Türkei zurückgekehrt oder gestorben. Auch er selbst war vor 15 Jahren, als seine Frau starb, vorübergehend in die Heimat zurückgezogen. In die Nähe von Istanbul. Doch er hielt es nur ein Jahr aus. "Es wurde mir bald zu langweilig." Er vermisste seine Nähmaschine, das Bügelbrett und die Kunden.

Heute wohnt er zusammen mit einem seiner zwei Söhne in Neuperlach. Abends kocht er für beide. Und auch Weihnachten werden beide, obwohl sie Muslime sind, gemeinsam feiern. "Die Traditionen hier waren mir immer wichtig." So habe er früher jedes Jahr einen Tannenbaum für die Familie gekauft. "Unsere religiösen Feste wie Ramadan habe ich dagegen nie gefeiert."

Es sind diese guten Erinnerungen, die Emin Firat auch mit seinem Engagement für "Weihnachten im Schuhkarton" verbindet. Die Botschaft, die er im Kleinen mit den Paketen in die Welt senden wolle, bestehe aus dem Wunsch nach Frieden und Freiheit. Noch bis Ende Dezember wird er jeden Morgen um 7 Uhr seine Zigarette anzünden, die Zeitung und ein Buch lesen und zum Ladenschluss gegen 18 Uhr die Kammer zu schließen.

© SZ vom 06.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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