Einfach nur anders (2): Regine Zille:Stilles Leiden

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Regine Zille ist hochgradig schwerhörig. 30 Jahre lange hat sie ihr Handicap versteckt, lernt, von Lippen abzulesen, mogelt sich durch die Schule, fühlt sich als Außenseiterin. Ihr Leben genießen kann sie erst seit kurzem.

Simone Sälzer

Ihre Lebensgeschichten sind unterschiedlich: Sie sind arbeitslos, obdachlos, süchtig oder einsam. Doch sie haben eines gemeinsam - in der Gesellschaft haben sie keine Lobby. In einer Serie porträtiert sueddeutsche.de Menschen, die sich an den Rand gedrängt fühlen und "einfach nur anders" sind.

Regine Zille ist schwerhörig, fast taub. Mit Hilfe eines Implantats aber kann sie seit kurzem Geräusche wahrnehmen - zum Beispiel das Rascheln von Blättern im Garchinger Park. (Foto: Simone Sälzer)

Regine Zille spaziert durch den Garchinger Park. Es ist kalt, der Wind weht. Die Spaziergänger sind dick eingepackt mit Mantel oder Anorak und Schal. Auch Regine Zille trägt eine dicke Jacke. Darin wirkt die zierliche Frau fast zerbrechlich. Sie schließt immer wieder kurz die Augen und lächelt, als spüre sie warme Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Doch, das was die Münchnerin aufsaugt, sind die Geräusche. "Ich liebe den Herbst", sagt sie und lässt das Laub durch ihre Hände fallen. "Das Rascheln der Blätter hört sich so schön an."

Blätterrascheln - solche Geräusche hört Regine Zille zum ersten Mal, als sie bereits Mitte 40 ist. Denn Frau Zille ist schwerhörig, fast taub. Ihr Handicap hat sie jahrelang verheimlicht, sie wird zwangsweise zum Einzelgänger. Die Krankheit wird erst diagnostiziert, als sie schon 30 Jahre alt ist - und mit ihrem ältesten Sohn schwanger.

Damals bekommt sie ihr erstes Hörgerät. Und hört zum ersten Mal. Unbeschreiblich, sagt sie, sei das gewesen. Es war, als gehe für mich eine Tür auf", sagt sie. "Davor habe ich wie unter einer Glasglocke gelebt."

Die 51-Jährige zieht hinter ihrem Ohr ein schwarzes, gebogenes Kunststoffteil hervor, das unter ihren Haaren versteckt ist. "Ich trage ein Cochlea-Implantat", erklärt sie. "Es hat mich von all meinen Torturen befreit." Vor vier Jahren wurde Regine Zille ein dünner Silikonfaden in die Windungen der Hörschnecke, der Cochlea, eingesetzt. Das Cochlea-Implantat (CI) - man muss es sich als eine Art Innenohr-Prothese vorstellen - versorgt den Hörnerv mit Sinneseindrücken. Ein Mikrofon hinter dem Ohr nimmt den Schall auf, die Sendespule schräg darüber schickt durch die Haut Informationen an das Implantat.

Es ist dieses kleine Implantat, das Regine Zille die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht. Zuvor hat sie sich als Außenseiterin gefühlt. Ihr Leiden beginnt im Alter von fünf Jahren. Sie hört sehr schlecht, doch der Arzt kann nichts feststellen. Das Mädchen verdrängt die Krankheit, entwickelt Strategien, mogelt sich regelrecht durch die Schulzeit - und schafft sogar das Abitur. Sie lernt alles auswendig, liest Bücher und besorgt sich diktierte Einträge von ihren Mitschülern.

Fremdsprachen sind für sie eine Qual. "Ich habe die Aussprache kaum verstanden, konnte sie deswegen nicht nachahmen", sagt sie. Die schlechten Noten gleicht sie mit guten in den Naturwissenschaften aus.

Sie fühlt sich nie richtig wohl in ihrer Haut, hat kaum Freunde. Sie will den Verletzungen aus dem Weg gehen, zieht sich immer mehr zurück. Der Zugang zur Außenwelt fehlt ihr. Es sei eine Behinderung, die niemand sehe, sagt sie. Schwerhörigkeit werde oft mit Dummheit gleichgesetzt. "Ich konnte in großen Gruppen nie mitreden, da ich ja kaum etwas verstanden habe." Und: "Wenn ich etwas falsch verstanden habe, konnte das auch ungewollt lustig wirken." Das ist Regine Zille peinlich, sie hat das Gefühl, ständig ausgelacht zu werden. Sie lebt als junge Frau in einem kleinen Appartement, geht kaum aus, baut nur wenige Kontakte auf.

Wenn, dann sind es Zweier-Kontakte. Denn nur, wenn Regine Zille ihrem Gesprächspartner gegenübersitzt, kann sie sich gut unterhalten. Sie schärft ihren Sehsinn, lernt, von den Lippen abzulesen. Veranstaltungen mit vielen Menschen meidet sie.

Sie fragt sich oft, warum sie anders ist. Sie hat Angst, über ihr Handicap zu reden, überspielt es, versteckt es. "Ich wollte es einfach nicht wahrhaben." Auch manche Alltagssituationen sind für sie eine Tortur. Mit Durchsagen am Bahnhof oder beim Arzt kann sie nichts anfangen.

Die 51-Jährige erzählt ihre Geschichte nüchtern, ohne große Gesten. Nur mit einem feinen Lächeln auf ihren Lippen.

Regine Zille kommt an ein Wasserrad, das schon stillsteht. Sie bückt sich und taucht ihre Hand in das Wasser. Sie reibt ihre Hände kurz aneinander, dann steht sie langsam wieder auf. Für wenige Sekunden wirkt sie wie in einer anderen Welt. "Die Natur bietet so unglaubliche Geräusche", sagt sie. "Die Hörenden nehmen das gar nicht mehr so wahr."

Die Hörenden. Auch Regine Zille gehört nun dazu. Und lebt das intensiv aus, saugt die Geräusche regelrecht in sich auf. "Trommeln ist mein Lieblingsgeräusch", sagt sie. Dann hebt sie den Kopf. "Da vorne fährt ein Traktor über das Feld", sagt sie, streckt ihre Hand gen Norden, schließt die Augen. Und genießt den Lärm, den andere jetzt gerne abschalten würden.

In Deutschland werden pro Jahr etwa 1900 Implantate eingesetzt. In München leben derzeit etwa 400 CI-Träger, in der Selbsthilfegruppe sind es gut 50. Die Gruppe trifft sich immer am ersten Donnerstag im Monat, 17 bis 20 Uhr, im Münchner Selbsthilfezentrum, Westendstraße 68, Gruppenraum 5. Ansprechpartnerin ist Regine Zille, Mail: Regine.Zille@t-online.de, Tel.: 089/32928926 oder Mobil: 0151/21647231.

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