Barbara Murken: Die Geschichtensammlerin aus Ottobrunn:Magie zwischen den Zeilen

Barbara Murken hat tausend Bilderbücher zusammengetragen. Hauptsächlich hat sie über die Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts geforscht. Jetzt wurde die Ottobrunnerin für ihr Engagement ausgezeichnet.

Von Gudrun Passarge

Ob Herr Wiedehupf mit buntem Schupf aus dem Widiwondelwald oder Ursula und Inge, die einen frechen Buben in eine schnatternde Ente verwandeln, die Geschichten schwirren nur so durch den Raum, wenn Barbara Murken von ihrer Leidenschaft erzählt.

Begleitet werden sie von außergewöhnlichen Illustrationen. Die 72-jährige Ottobrunnerin hat etwa tausend verschiedene Bilderbücher zusammengetragen, einer ihrer Schwerpunkte liegt auf der Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Einer Zeit, in der auch viele Künstler solche Bücher gestalteten. Murken hat aber nicht nur gesammelt, sie hat auch geforscht und einigen der schon vergessenen Kreativen wieder Aufmerksamkeit zuteil werden lassen.

Ottobrunn, Besuch bei Barbara Murken und ihrer Sammlung von Kinder-und Jugendbüchern

Barbara Murken ist eine Geschichtensammlerin. Nicht nur von solchen, die in den Büchern stehen, sondern auch von solchen, die von den Machern erzählen.

(Foto: Angelika Bardehle)

Murkens Lieblingsbuch ist "Das Buch der erfüllten Wünsche" von Tom Seidmann-Freud. Es kam 1929 heraus und wurde ein Flop, wie Murken berichtet, "es war wohl zu weit seiner Zeit voraus". Die Autorin und Künstlerin war eine Nichte von Sigmund Freud. "Ich habe dieser Künstlerin bis nach Israel nachgespürt und habe jetzt mit der Enkelin noch guten Kontakt", sagt Murken. Tom Seidmann-Freud, geborene Martha Gertrud Freud, hatte sich schon mit 15 Jahren den männlich klingenden Namen gegeben und zog Männerkleider an, vermutlich, um sich abzugrenzen und mehr Erfolg zu haben. Den hatte sie später tatsächlich, ihre Bücher verkauften sich gut. Doch die Wirtschaftskrise riss auch ihre Familie in den Strudel. Der Verlag ihres Mannes ging pleite, er beging Selbstmord. Sie folgte ihm einige Wochen später im Februar 1930. Zurück blieb die siebenjährige Aviva, die erst bei einer Tante lebte und dann mit einem Kindertransport nach Palästina kam.

Ottobrunn, Besuch bei Barbara Murken und ihrer Sammlung von Kinder-und Jugendbüchern

"Orbis pictus" hebt sich entscheidend von den Wurzelkindern ab.

(Foto: Angelika Bardehle)

Mit ihrem Buch der erfüllten Wünsche hat Tom Seidmann-Freud ein einzigartiges Zeugnis für das Verständnis der kindlichen Entwicklung geschaffen. Der Einfluss der Tiefenpsychologie ihres Onkels ist deutlich zu erkennen, etwa wenn die kleinen Zauberinnen Ursula und Inge ihre Aggressionen mit Hilfe eine Puppe ausleben und ein Junge schließlich zu einer Raumfahrt zum Mond, zum Unbekannten, aufbricht, synonym für die Pubertät und die Ablösung vom Elternhaus.

Die Farben, die Traumwelten, das Magische

Die Sammlerin schätzt diese Art der Erzählung und Darstellung mit minimalistischen Mitteln, es sind die Farben, die Traumwelten, das Magische, das sie anzieht. Das Faszinierende an den Büchern aus dieser Zeit sei, "dass so viel zwischen den Zeilen schwebt", erzählt Murken.

Ottobrunn, Besuch bei Barbara Murken und ihrer Sammlung von Kinder-und Jugendbüchern

Ihr ältestes Buch in der Sammlung ist das "Orbis pictus" von 1707

(Foto: Angelika Bardehle)

Wie sie ihre Leidenschaft dafür entdeckt hat? "Vorbilder hatte ich keine, es herrschte eher Mangel", erzählt sie von ihrer Kindheit, als jüngstes Kind mit vier Brüdern. Sie kam mit ihrer Familie mit sechs Jahren von Thüringen nach München. Nach ihrem Studium der Medizin und der Heirat ließ sie sich mit ihrem Mann Jan Murken 1972 in Ottobrunn nieder. Noch heute betreibt die ärztliche Psychotherapeutin dort eine Praxis.

Bilderbücher hatte sie erst im Haus der Freundin kennengelernt. Während des Studiums stöberte sie gerne in den Antiquariaten in Schwabing herum. Sie lernte viel über diese Literaturgattung, die Antiquare freuten sich über ihr Interesse, gekauft hat sie eher wenig. Zwar seien die Bücher damals noch "unglaublich günstig" gewesen, für 20 bis 40 Mark hätte sie schon etwas bekommen, "aber das war mein Essensgeld", erzählt sie.

Ottobrunn, Besuch bei Barbara Murken und ihrer Sammlung von Kinder-und Jugendbüchern
(Foto: Angelika Bardehle)

Die Leidenschaft ließ sie jedoch nicht mehr los. Und da auch ihr Mann dieses Hobby "wundersamerweise interessant fand", hätten sie manches Werk gemeinsam erworben. Zur Forscherin wurde Murken, als sie einen Vortrag vor Antiquaren vorbereiten sollte, einen Streifzug durch die Geschichte des Bilderbuchs. "Da habe ich gemerkt, dass es mir Spaß macht." Besonders die Autoren und Künstler reizten sie. Und die Entwicklung von Bildungswerken hin zu kindgerechten Büchern.

Anfangs seien Bilderbücher noch für Erwachsene und Kinder gedacht gewesen, dann kamen die "wunderschön handkolorierten Biedermeier-Bilderbücher" und dann die Bildergeschichten, wie die von Wilhelm Busch, die plötzlich viel mehr Menschen erreichten. Spezialisiert hat sich Murken jedoch auf die Zeit von 1900 bis zum Zweiten Weltkrieg. Da standen eindeutig die Kinder im Fokus. "Die Kinder sollten frei sein, sie sollten sich spielerisch in so einem Buch bewegen können." Die Darstellungen waren oft große Kunst. Murken hat sich mit 15 Künstlern dieser Zeit näher befasst, hat ihrem Leben und ihren Werken nachgespürt, es wissenschaftlich aufgearbeitet, Ausstellungen angestoßen und organisiert. Eine von ihnen ist Lou Scheper-Berkenkamp, die Bauhaus-Künstlerin. Die Sammlerin hat ihren Sohn in Berlin ausgemacht und dank seiner Hilfe viel über diese große Künstlerin erfahren. Am Ende war selbst der Sohn überrascht, erzählt Murken. "Er hat gesagt, ich bringe ihm seine Mutter auf eine völlig neue Weise nahe."

Es sind diese Begegnungen mit den Künstlern und ihren Angehörigen, die einen Teil des Reizes ihrer Arbeit ausmachen. Natürlich gehört auch der enge Austausch mit Gleichgesinnten dazu, ein handverlesener Kreis, wie sie sagt. Barbara Murken ist kürzlich für ihr Engagement mit dem Volkacher Taler der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendbuchliteratur ausgezeichnet worden. Es war eine kleine Anerkennung für ihr Engagement für diese Literatur und ihre Autoren und Gestalter. Ihre Arbeit ist damit jedoch nicht beendet. Das ein oder andere Exemplar hätte sie gerne noch, etwa ein Buch von Kurt Schwitters aus der Dada-Phase. Aber das sei kein Muss, betont sie. Für sie hat das Sammeln eine neue Qualität bekommen. "Aus diesem Sturm und Drang bin ich eigentlich raus." Ihr sei die Beschäftigung mit dem Werk wichtiger als das Haben-Wollen.

Helden der Kindheit

In ihrem Arbeitszimmer bedecken ein Teil der Bücher eine ganze Regalwand. Hier finden sich viele Helden der Kindheit und längst vergangener Tage, hier nehmen bunte Abenteuer und skurrile Geschichten ihren Verlauf. Wie etwa bei den Wurzelkindern, an die sich mancher noch erinnern mag. Fantastische Werke, die zum stundenlangen Blättern und Staunen einladen. Einmal im Jahr trifft sich die ganze Familie Murken, die vier Kinder, die zehn Enkelkinder. Da kommt dann auch die Frage auf, ob jemand Interesse daran hat, die Sammlung eines Tages zu übernehmen.

Doch das sei schwierig. Barbara Murken hat Verständnis dafür, denn schließlich sei die Sammlung stark durch sie geprägt, "der Reiz des Forschens und Sammelns ist in bestimmten Kategorien ausgeschöpft". Für einen Nachfolger wäre es schwer, sie in ihrem Sinne weiterzuführen. "Aber das ist noch Zukunftsmusik", sagt Murken. Die Bücher abzugeben, das kann sie sich im Moment noch nicht vorstellen. "Das ist so wie bei einem lieb gewordenen Bild", das sie aus 1000 Einzelbestandteilen komponiert hat.

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