Baierbrunn:Wo der Melker neben dem Wagner ruht

Lesezeit: 4 min

Das Gedächtnis einer Gemeinde: der Baierbrunner Dorffriedhof. (Foto: Claus Schunk)

Der alte Dorffriedhof in Baierbrunn gilt als das historisches Gedächtnis der Gemeinde. Seit 40 Jahren kümmert sich eine Pflegegruppe ehrenamtlich um den Erhalt

Von Bernhard Lohr, Baierbrunn

Die Bewohner des kleinen Dorfs im Isartal erlebten bittere Stunden. Als am 17. Mai des Jahres 1632 schwedische Truppen in Baierbrunn einfielen, nahmen sich die Soldaten, was sie wollten. Am Ende des Tages war der Wirt der Tafernwirtschaft tot. Mit ihm etliche andere Bewohner. Das Gasthaus und zehn weitere Gebäude brannten. Der Dreißigjährige Krieg war eine Geißel. Heute erinnern ausgerechnet Fragmente eines so genannten Tugend-Ofens aus der zerstörten Wirtschaft an die Gräuel. Die zerbrochenen Ofenkacheln zeigen Allegorien der Frömmigkeit und der Tugendhaftigkeit. Auf einer ist ein segnender Christus zu sehen.

Die Kacheln wurden entdeckt, als der Wort & Bild-Verlag an der B 11 sein 1980 bezogenes Verlagsgebäude errichten ließ. Die letzte Ruhestätte des ermordeten Gastwirts Wendelin Harter ist nicht bekannt. Doch wer sich mit dem Baierbrunner Archivar Alfred Hutterer zu einem Spaziergang über den Dorffriedhof an der Kirche St. Peter und Paul verabredet, stößt auf viele Namen und Geschichten; und natürlich auch die von Harters traurigem Ende.

"Ein lebendiges Geschichtsbuch."

Die zehn Freiwilligen wollen die Identität ihrer Gemeinde bewahren (Foto: Claus Schunk)

An jedem Grabstein lässt sich etwas erzählen. Hutterer hebt die Hand und deutet über die Friedhofsmauer hinaus. Dort sei das Haus des Hauptlehrers Lorenz Bibel (1865-1917) gestanden, sagt er. Das Haus habe die Familie Bibel der Gemeinde überlassen, unter der Bedingung, "dass das Grab hier bleibt", auf dem Dorffriedhof. Es hat einen prominenten Platz direkt an Eingang.

Die Gemeinde ließ später auf Bibels Grundstück das Feuerwehrhaus errichten. Am Grab des Königlichen Posthalters Martin Köck (1804-1851), Wirt im Gasthof zur Post, berichtet Hutterer von der wechselvollen Geschichte der Gastwirte. Auch Harters Geschichte muss dann erzählt werden. Für den Archivar ist der kleine Friedhof ein "lebendiges Geschichtsbuch".

Saubere Steine, gestutzter Rasen: Das ist die Arbeit der "Pflegegruppe". (Foto: Claus Schunk)

Die Kirche St. Peter und Paul wurde als Steinkirche erstmals im Jahr 1065 erwähnt. So lange, schätzt Hutterer, dürfte es den Friedhof geben. Dennoch sollte er ganz oder teilweise weichen. Über Jahre war im Gespräch, die B 11 zu verbreitern. Sogar der Teilabriss der Kirche wurde zugunsten eines verkehrsgerechten Dorfs erwogen.

Als das vom Tisch war, kam der kleine Friedhof schließlich herunter. Beerdigt wird dort laut Hutterer seit vielen Jahren niemand mehr. Die Familien, die sich um die alten Gräber kümmern könnten, existieren oft nicht mehr. Gräber wurden aufgelöst, Rasen wurde angesät. Der Dorffriedhof schien verzichtbar. Schließlich gibt es seit 50 Jahren den Gemeindefriedhof am Ortsrand.

Der alte Dorffriedhof in Baierbrunn gilt als das historisches Gedächtnis der Gemeinde. (Foto: Claus Schunk)

Der Trend zur Urnenbestattung führt zum Verlust der Dorffriedhöfe

Es drohte das Schicksal vieler Orte, die durch städtebauliche Konzeptionslosigkeit und eine uninspirierte Architektur austauschbar werden. Gemeinden verlieren ihre Identität, weil das Wissen um die Menschen verloren geht, die dort lebten. Der Trend zur Urnenbestattung und zum Grab, das den Nachkommen keine Arbeit macht, führt zum Verlust der Dorffriedhöfe.

Aber einige wollten in Baierbrunn dem nicht tatenlos zusehen. Sie taten sich im Vorfeld der 1200-Jahr-Feier des Ortes im Jahr 1976 zusammen und beschlossen, den Friedhof zu pflegen und als Zeugnis der Ortsgeschichte zu bewahren. Bis heute gibt es die Friedhofs-Pflegegruppe, die Hutterer als das historische Gedächtnis der Gemeinde leitet.

Die Gemeinde und die Kirchenstiftung ziehen mit. Dieser Tage werkeln Arbeiter an der alten Stützmauer zur B11. Im Frühjahr soll der Rest der Mauer saniert werden. Es gibt Zuschüsse für die Pflegegruppe. Aber ums Geld geht es den Leuten, die Unkraut jäten und Blumen pflanzen, nicht. Zehn Ehrenamtliche, vor allem Frauen, arbeiten dort mit. Alle freiwillig und gerne. Erst kürzlich, sagt Hutterer, habe eine alte Schulfreundin gesagt, sie werde sich um das Grab der Eheleute Therese und Anton Keibach kümmern, die einst die Bahnhofs-Restauration betrieben. Ein verwahrlostes Grab, sagt Hutterer, suche man heute vergebens. Und das nicht nur an Allerheiligen.

Die Baierbrunner hängen an ihrem alten Friedhof, der viel von früher erzählt. Er zeugt vom Aufstieg des Orts, als Sommerfrischler den Münchner Süden entdeckten und die Isartalbahn gebaut wurde. 1876 wurde das erste Schulhaus eröffnet und der erste Lehrer angestellt. 1898 war die Isartalbahn fertig gestellt. Der Reichsbahnzugführer Franz Winterle aus Baierbrunn (1868-1941) wurde unter einem Stein beigesetzt, auf den eine Lokomotive eingemeißelt war. Und an die Ehefrau des Distrikt-Straßenwärters wird mit der Inschrift "Königliche Straßenwärterswitwe" erinnert.

Alte Hofnamen wie der "Blassbauer" oder der "Schulerbauer", die in Vergessenheit geraten könnten, finden sich auf den Grabsteinen. Hier liegt ein Bahninspektor begraben, da ein Melkerlehrmeister und dort ein Wagnermeister. In einer Zeit, in der Menschen schnell den Job wechseln, erzählt die Art und Weise, wie Verstorbene mit Berufsbezeichnungen gewürdigt wurden, von einer fremden Welt. Der Schuhmachermeister war offenkundig jemand im Ort.

Den weiten Bogen zum Dreißigjährigen Krieg schlägt Hutterer am Dorffriedhof merhmals ohne Mühe. Der am 10.10.1915 in einem Lazarett gestorbene Josef Ritt ist in Uniform mit Bild an seinem Grab verewigt. Der Umriss eines Steins lässt erkennen, dass darauf einmal ein Wappen abgebildet war. In Tirol spielten Familienwappen eine große Rolle, sagt Hutterer.

Beim Bau des Verlagsgebäudes tauchten Gräber aus dem 5. bis 6. Jahrhundert auf

Die Familie Ritt sei wie viele aus Tirol gekommen, um nach Kriegszerstörung, Mord, Pest und Hungersnot im 17. Jahrhundert den Landstrich wieder zu bevölkern. Ein paar Gräber weiter erzählt Hutterer die Geschichte vom Grabstein der Familie Hupfauer, den der Vater erst entfernen ließ, bis die Töchter sich durchsetzten. "Die drei Madl haben gesagt, den tun wir wieder her." Weil jemand die Platte mit den Inschriften vom ersten Grabstein aufbewahrt hatte, wurde die auf einem anderen Stein angebracht.

So werden Grabmäler rekonstruiert und auch verlegt, wenn es geboten erscheint. Hutterer erzählt von der ungewöhnlichen Praxis, da und dort, versehen mit einer ergänzenden Inschrift auf einer Platte, Urnen in bestehenden Gräbern anderer Familien zu bestatten. Die Hinterbliebenen kümmerten sich dann um das Ensemble. Ein Steinkreuz neben dem Eingang des Friedhofs erinnert daran, dass es natürlich mal einen Bäckermeister am Ort gab. Das Grab von Georg Heilmeier (1867-1936) war einst auf den Gemeindefriedhof verlegt worden. Dort sollte es jetzt weg. Man holte es kurzerhand zum Dorffriedhof zurück.

Alfred Hutterer glaubt, Baierbrunn könnte mit seinem bürgerschaftlichen Engagement beispielgebend sein. Es gebe auch andernorts Bestrebungen, alte Friedhöfe zu erhalten, damit die Orte nicht geschichts- und gesichtslos werden.

In Baierbrunn ist die Zeitreise weiter möglich, und mit etwas Fantasie sogar bis zum 17. Mai 1632, oder gar ins frühe Mittelalter. So tauchten beim Bau des Wort & Bild-Verlagsgebäudes auch Gräber aus dem 5. bis 6. Jahrhundert auf. Der Vorgänger-Friedhof mit geschätzt 40 Gräbern liegt nur einen Steinwurf von der Mauer des Dorffriedhofs entfernt. Nicht alle alten Gräber wurden freigelegt, manche befinden sich wohl noch unter der B11. In einer Vitrine im Rathaus ist so wie der Tugend-Ofen aus dem 17. Jahrhundert der Schädel einer 35 bis 45 Jahre alten Frau aufbewahrt. Das Relikt erzählt sonst nicht viel. Nur eins: Friedlich ging es auch da nicht zu. Ein Loch im Schädel lässt einen mächtigen Schwerthieb vermuten.

© SZ vom 31.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: