Kurz vor dem Ende der Beweisaufnahme im Demjanjuk-Prozess hat der 90 Jahre alte Angeklagte am Dienstag zum dritten Mal eine persönliche Erklärung abgegeben. Er beklagte erneut, dass er sich vor dem Landgericht München einem "politischen Schauprozess" stellen müsse. Da die Richter offenbar nicht an der "historischen Wahrheit" interessiert seien und Beweisanträge der Verteidigung "unterdrücke", sehe er keine andere Möglichkeit mehr, als innerhalb von zwei Wochen in einen Hungerstreik zu treten. John Demjanjuk ist angeklagt, 1943 als Wachmann im Vernichtungslager Sobibor der SS bei der Ermordung Zehntausender Juden geholfen zu haben. Wahlverteidiger Ulrich Busch trug die schriftliche Stellungnahme zu Beginn des Prozesstages vor.
Die Schwurgerichtskammer am Landgericht hatte ursprünglich für Dienstag den Schluss der Beweisaufnahme geplant - der Prozess läuft seit Ende November 2009. Doch dem kam Busch zuvor, indem er über Stunden zahlreiche weitere Beweisanträge stellte. Bis zum Ende des Tages waren es mehr als 70. Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Vertreter der Nebenklage warfen Busch vor, mit seinem Vorgehen den Prozess auf unzulässige Weise verschleppen zu wollen. Das Gericht will sich am Mittwoch noch weitere Anträge anhören, hat aber ebenfalls Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Antragsflut geäußert.
Zuvor hatte jedoch die Erklärung des gebürtigen Ukrainers im Gerichtssaal für Aufsehen gesorgt. Die Stellungnahme Demjanjuks - auf Ukrainisch und Englisch am PC verfasst, aber eigenhändig unterzeichnet - wiederholt bekannte Vorwürfe der Verteidigung in scharfen und effekthascherischen Worten; normalerweise schweigt Demjanjuk im Prozess und macht keinerlei Angaben zu den Vor-würfen gegen ihn.
Er sei in seinem Leben dreimal zum Opfer geworden: Zunächst habe ihn Stalin in seiner Kindheit zum "Tod durch Verhungern verurteilt" - angespielt wird hier auf die Hungersnot in der Ukraine in den 1920/1930 Jahren -, während des Weltkriegs hätten die Deutschen versucht, ihn, den Kriegsgefangenen, durch Hunger und Sklavenarbeit zu töten. Und in den 80er Jahren hätten schließlich die USA und Israel ihn "in betrügerischer Weise" angeklagt, "korrupte Richter" hätten ihn dann unschuldig zum Tode verurteilt. Demjanjuk war 1988 in Jerusalem als "Iwan der Schreckliche" aus dem Vernichtungslager Treblinka verurteilt worden, 1993 hob der Oberste Gerichtshof des Landes das Urteil auf. Zeugen hatten Demjanjuk verwechselt.
"Jetzt, am Ende meines Lebens, versucht Deutschland meine Würde, meine Seele, meinen Geist und mein Leben in einem politischen Schauprozess auszulöschen", heißt es in Demjanjuks Erklärung. Das Gericht unterdrücke Entlastungsbeweismittel, verfälsche die Geschichte, konspiriere mit Strafverfolgern in den USA und in Israel und lasse "gewissenlos" jedes Argument der Verteidigung an sich abprallen. Die Richter nahmen die Erklärung zur Kenntnis.
Bereits bei seiner Ankunft im Gerichtssaal hatte Demjanjuk die Medienaufmerksamkeit für ein Statement genutzt. Als er im Rollstuhl hereingeschoben wurde, hielt er ein Pappschild mit der Aufschrift "1627 " in den Händen. Die Nummer bezieht sich auf eine umfangreiche Akte, die in Russland lagert und die nach Auffassung der Verteidigung für alle Vorwürfe gegen Demjanjuk entlastendes Material enthielte. Diese Akte 1627 will Anwalt Busch mit allen Mitteln zum Gegenstand des Verfahrens machen.
Seiner Meinung nach geht aus dieser Akte hervor, dass Demjanjuk nie in Sobibor oder Treblinka gewesen sei, dass sein SS-Dienstausweis gefälscht sei und dass einstige Zeugen in der Sowjetunion zu Falschaussagen erpresst worden seien. Busch spricht von "der Mutter aller Akten". Werde sie nicht beigezogen, sei dies ein "Justizskandal". Die anderen Prozessbeteiligten sehen allerdings keinen Sinn in der Beiziehung der Akte 1627.