Lärm:Training für die Ohren

Lärm: Wer das ganze Klangspektrum wahrnehmen will, muss sein Gehör schulen.

Wer das ganze Klangspektrum wahrnehmen will, muss sein Gehör schulen.

(Foto: imago stock&people)

Viele Menschen sind für sehr hohe und tiefe Töne taub - weil die Musik zu eintönig ist

Von Stephan Handel

Der Lackel in der S-Bahn legt Wert darauf, dass auch jeder Bescheid weiß über seinen Musikgeschmack. Weiße Kabel führen von seinem Handy zu den Ohren, aber die Musik, die auf diesem Weg transportiert wird, ist so laut eingestellt, dass der ganze Wagen etwas davon hat. Die Mitreisenden nehmen das naturgemäß als Belästigung wahr - und wären erstaunt, wenn sie den Rat hören würden, den Musiker dem jungen Mann geben würden: Er solle doch lauter Musik hören.

Über Qualität kann man schlecht streiten, und über Geschmack schon gleich gar nicht. Was aber das Gehör der Menschen angeht, so gilt seit gut zehn Jahren, dass es meistens zugleich über- und unterfordert wird. Das liegt zum einen daran, dass Musik sehr oft direkt, also über Kopfhörer aufs Trommelfell projiziert wird - eine Art der Beschallung, für die die nur 0,1 Millimeter dünne Membran ebenso wenig ausgelegt ist wie die dahinter liegenden Teile des Hörapparats. Die extreme Belastung führt ohne Zweifel im Lauf der Zeit zu Hörverlusten, zu Schwerhörigkeit.

Das ist eine Folge von Überbeanspruchung. Gleichzeitig werden aber die Ohren vernachlässigt - und das liegt daran, welche Musik wir hören und wie. Der Standard dürfte heute die überaus praktische Song-Liste im Smartphone sein: Tausende Titel in der Westentasche, ständig verfügbar, überall dabei. Der Schritt vom Plattenregal zur digitalen Track-Sammlung war nur möglich, indem die Datenmenge einer Aufnahme reduziert wird: Die Datenmenge eines Lieds auf einer CD ist sieben Mal so groß wie die desselben Liedes im Mp3-Format. Das geht natürlich nicht ohne Verlust: Datenkomprimierung heißt das Zauberwort, und es behauptet, dass Musik Informationen enthalte, die man ohne weiteres weglassen könne.

Das geht dann beispielsweise so, dass - vereinfacht gesagt - alle Frequenzen über 15 000 Hertz abgeschnitten werden, gelöscht. Vergleicht man Spektralanalysen von unkomprimierten Aufnahmen mit Mp3s, so schauen erstere aus wie das Streckenprofil einer Tour de France-Bergwertung: Berge und Täler gleichmäßig verteilt. Die komprimierte Datei hingegen gleicht einer Flachetappe - als hätte jemand bei 15 000 Hertz einen Strich gezogen und alles darüber ausradiert.

Ist das nicht vernünftig, wo doch der Mensch sowieso nur bis höchstens 19 000 Hertz hören kann? Ist es nicht - denn Leute mit geschultem, feinjustierten Gehör beklagen an Mp3s fehlende Farben, eine Armut im Klangspektrum, als wäre einem Maler nur erlaubt worden, Farben zwischen Mittelrot und Mittelblau zu verwenden und alles Helle, Grelle ebenso zu vermeiden wie das Dunkle und das Graue. Diese Reduktion auf einen engen Frequenzgang hat auch Auswirkungen auf die Entwicklung des Gehörs: Wer von Kindheit an nur Mp3s hört und die ebenfalls reduzierte Musik, die populäre Radiosender in die Welt schicken, der lernt nie, auch tiefere Töne zu hören und höhere. Und er wird sich so sein Leben lang einrichten in einer partiellen Taubheit, von der er nicht einmal etwas weiß.

Diese Tendenz wird verstärkt durch einen Trend in der Musikproduktion: dem Versuch, immer mehr aufzufallen, indem alles immer lauter wird. Auch das ist nur durch einen digitalen Trick möglich - einfach den Lautstärkeregler weiter aufzudrehen, funktioniert nur bis zu einer gewissen Grenze, weil es dann zu Verzerrungen kommt. Die Toningenieure machen das so: Sie machen die leisen Stellen in einem Musikstück lauter und die lauten leiser - das sogenannte "Brickwall Limiting", weil die so entstehende Hüllkurve eher einem Ziegelstein gleicht als einem Gebirgszug. Und dieser akustische Ziegelstein kann nun insgesamt lauter gemacht werden als die unkomprimierte Form - mit den nämlichen Auswirkungen auf die Physiologie des Hörens.

Was man also dem jungen Mann in der S-Bahn raten sollte? Laute Musik zu hören, die aber auch leise ist. Die nicht nur im Studio von mehr oder weniger digitalen Instrumenten erzeugt worden ist, sondern richtig akustisch eingespielt. Da hat das Ohr dann was zu tun, Piano und Fortissimo, ganz hohe Töne und ganz tiefe. Kurz gesagt, lautet der Rat also: Hört mehr Klassik.

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