Kunst und Wirklichkeit:Bisschen Dada, bisschen Adorno

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Der Brite Simon Starling und Susanne Witzgall im Foyer der Akademie beim Austausch von Ideen. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Susanne Witzgall leitet das Cx-Zentrum an der Akademie der Bildenden Künste. Mit mehr als zwei Millionen Euro wird das Projekt gefördert, das Netzwerke mit der Welt "draußen" knüpft. Das bringt frischen Wind ins Haus, zum Beispiel in Person des Konzeptkünstlers Simon Starling

Von Martina Scherf

Leonardo da Vinci schuf die berühmte Mona Lisa, aber er erfand auch allerhand Kriegsgerät. William Turner malte mystische Sonnenuntergänge - und war begeistert von Dampfschiffen und Eisenbahnen. Wassily Kandinsky interessierte sich für Kernphysik, und Marcel Duchamp entdeckte im Deutschen Museum sein Faible für Technik. Wenig später stellte der Franzose ein "Fahrrad-Rad" auf einen Schemel - das erste Readymade war geboren, ein zur Kunst erhobener Alltagsgegenstand.

Das Verhältnis Mensch und Maschine - es ist seit je her Thema der Kunst. Mal feierten Künstler enthusiastisch die Verheißungen neuer Technologien, mal entwarfen sie düstere Szenarien zu deren Gefahren. Auf jeden Fall "sind es doch immer die Künstler, die sich als erste am Zahn der Zeit abarbeiten", sagt Susanne Witzgall.

Die Kunsthistorikerin, schwarze Jeans, schwarzes Shirt, lange, blonde Haare, sitzt zwischen den kahlen Betonwänden ihres Büros im Coop Himmelb(l)au-Anbau der Akademie. Seit 2011 leitet sie das Zentrum für interdisziplinäre Studien an der Münchner Akademie der Bildenden Künste; vorher hat sie einige Jahre Ausstellungen fürs Deutsche Museum kuratiert. Das Spannungsfeld zwischen Kunst und Wissenschaft ist ihr Spezialgebiet.

Cx-Zentrum heißt ihr Programm an der Akademie - dort lieben sie kryptische Namen. Kurz gesagt geht es darum, Theorie und Praxis stärker zu verbinden, aktuelle Diskurse aufzugreifen und Netzwerke mit der Welt "draußen" zu knüpfen. Das war früher anders. Die Münchner Akademie war lange Zeit ein abgeschiedener Ort voller kleiner künstlerischer Biotope - von Bildhauern, Malern, Fotografen, Architekten -, die wenig bis gar nichts miteinander zu tun hatten. Das will Witzgall, Jahrgang 1966, ändern. Nicht zuletzt geht es auch um bessere Berufschancen für Absolventen, denn nicht aus jedem wird ein zweiter Picasso. Deshalb fördert das Bundesforschungsministerium das Programm nun schon zum zweiten Mal mit mehr als einer Million Euro. Viel Geld für eine Akademie, in der zum Semesterende regelmäßig Farbe und Papier ausgehen, sagen manche Studenten.

Aber Witzgall bringt frischen Wind in die ehrwürdige und in manchen Ecken altbackene Institution. "Wir bringen Leute zusammen, die sich vorher nie gesehen haben", sagt sie und spricht von "magischen Momenten". Der Physiker Harald Lesch und der DJ Terre Taemlitz waren zu Besuch, die französische Regisseurin Claire Denis, der skandalumwitterte britische Performer Genesis Breyer P-Orridge und der australische Anthropologe und Fortschrittskritiker Michael Taussig. Manches geht auf Vorschläge von Studenten zurück. Zum jeweiligen Jahresthema gibt es im Winter Vorträge und Workshops, im Sommer arbeiten Gastprofessoren praktisch mit den Studenten.

"Hybride Ökologien" heißt das aktuelle Thema. Hinter dem sperrigen Begriff verbirgt sich durchaus subversives Gedankengut. Die Künstler und Aktivisten John Jordan und Isabelle Fremeaux ("Labofii"), die in diesem Sommer Gastprofessoren sind, stellen mit ihren Aktionen das neoliberale Gesellschaftsmodell in Frage.

Und der Brite Simon Starling - er hat 2005 den Turner-Preis, eine der höchsten Auszeichnungen für bildende Künstler, gewonnen - schärft das Bewusstsein seiner Studenten für die Zusammenhänge von Mensch, Natur und Technik. Wenn auch auf sehr sanfte Weise.

Vor Jahren fuhr der Konzeptkünstler mit einem Wasserstoff-getriebenen Fahrrad durch die Wüste und malte mit dessen Emissionen, nämlich Wasser, das Aquarell eines blühenden Kaktus. Im nächsten Jahr baute er aus einem Holzschuppen ein Boot, mit dem er den Rhein hinauf fuhr bis Basel, und rekonstruierte dort im Museum aus dem Boot wieder den Holzschuppen.

An diesem Vormittag kommt er mit dem Fahrrad aus dem Olympiapark angefahren, Schweißtropfen hängen in seinem Strubbelhaar, das weiße Hemd ist feucht geworden. Der Brite lebt in Kopenhagen, die Hitze ist er nicht gewohnt. Er radelt in diesem Sommer aber viel durch München. Hightech-Industrie, Natur und bajuwarische Traditionen ergeben ein interessantes Bild der Stadt, sagt er.

Starling ist ein Geschichtensammler. Als er im Frühjahr ankam, fragte er die Studenten als erstes nach ihren eigenen Lebens- und Kunsterfahrungen. "Das hat noch kein Prof gemacht", stellten sie erstaunt fest. Dann gingen sie los, die Stadt zu erkunden. Ins Valentin-Musäum zum Beispiel, und in die BMW-Welt. Jenseits der Hochglanz-Fassaden hörten sie dort seltsame Dinge, erzählt Starling, etwa, dass Amerikaner nach München fliegen, um BMWs zu kaufen, die in ihrem eigenen Land hergestellt und zurück importiert worden waren - "very strange". Auch dass die Autobauer so viel Energie ins autonome Fahren stecken, wo doch klar sei, dass der Individualverkehr keine Zukunft habe, wundert den Künstler. Aus ihren gesammelten Geschichten und Objekten soll eine Lecture Performance entstehen.

Starlings Künstlerfreund Olof Olsson führt an einem Montag im Juni vor, wie so etwas aussehen könnte. Der Schwede ist bekennender Fan von Karl Valentin. In knapp drei Stunden seines Vortrags auf Englisch, er nennt das Info Comedy, schlägt der Performer einen Bogen von seiner Kindheit in Schweden unter besonderer Berücksichtigung der Farbe Orange über die weltweite Bedeutung der Kakaobohne bis hin zu Pepsi Cola, Bill Gates und Gott. Ein hoch intelligentes, komisches Spiel mit Sprache, Symbolen und politischen Konnotationen. Ein bisschen Dada, ein bisschen Adorno.

Das Publikum in der Galerie Lothringer 13 schwitzt und lauscht und ist am Ende begeistert. "Es wäre schön, wenn es mehr solche Comedy gäbe anstatt des flachen Mainstreams, den man sonst überall sieht", sagt Sarah Doerfel, die das Glück hatte, einen der begehrten Plätze in Starlings Seminar zu ergattern. In der Haidhauser Galerie diskutieren die Studenten noch lange an diesem Abend: über Luxus und Gerechtigkeit, Karl Valentin und Steve Jobs, über die Frage, ob man sich als Künstler von Sponsoren bezahlen lassen würde (sehr zwiespältig) und was "diese superkrasse Welt, in der es nur noch um Leistung geht", mit einem jungen Menschen macht.

Starling will, dass seine Studenten die Welt mit offenen Augen betrachten und ausgehend von eigenen Erfahrungen die Kunst mit dem Leben verbinden - und nicht nach einem vorgegebenen Plan arbeiten oder gar auf den Markt schielen. "Wenn ich zurückblicke, waren meine wertvollsten Jahre jene nach dem Abschluss an der Akademie bis zur ersten Ausstellung in einer Galerie. Niemals hätte ich daran gedacht, von der Kunst leben zu können", erzählt er.

Raphael Krome hört aufmerksam zu. Starlings Arbeitsweise findet er beeindruckend, "er ist absolut authentisch", sagt der junge Mann, der vor seinem Studium bei BMW gearbeitet hat. Er hegt die Hoffnung, eines Tages von seiner Kunst leben zu können, aber verbiegen lassen will er sich nicht. Und schon gar nicht "the hot new shit" aufgreifen, nur weil bestimmte Themen gerade "in" sind. Sarah Doerfel findet es wichtig, als Künstlerin ein solides theoretisches Fundament zu haben. "Aber wer weiß schon, was morgen ist? Unsere Generation lebt mit einer allgegenwärtigen Unsicherheit", sagt die Studentin in die untergehende Sonne über Haidhausen.

Zurück in die Akademie. Es gibt Studenten, die sich in sozialen oder ökologischen Projekten engagieren, sagt Susanne Witzgall, aber noch mehr, die hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt sind und doch auf den Kunstmarkt schielen. "Die wollen wir mit unserem Programm ein bisschen aus der Komfortzone locken." Wie politisch aufgeladen die Welt jetzt wieder ist, spiegele sich in der aktuellen Documenta in Kassel wider.

Auch Florian Matzner, der den Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der Akademie innehat, hält die Verzahnung von Theorie und Praxis für wichtig. "Keiner ist verpflichtet, daran teilzunehmen. Und manche meinen: Ein Künstler macht Kunst und sonst gar nichts", sagt er und schmunzelt. Aber wenn sich die Studenten später draußen behaupten wollten, wäre es von Vorteil, über den eigenen Tellerrand geblickt zu haben. Und überhaupt: Kunst habe sich schon immer als Alternative zu den bestehenden Verhältnissen verstanden. Dazu müsse man die Verhältnisse kennen.

Joseph Beuys hat seine Studenten einst aufgerufen, die Finger in die Wunde zu legen. Die Wunden, die der moderne Maschinenmensch der Natur zufügt, werden immer sichtbarer, sagt auch Simon Starling. "Und viele Menschen spüren, dass ein einfaches "Weiter so!" nicht funktionieren kann", sagt Witzgall und blickt auf die sattgrünen Bäume vor ihrem Fenster, die sich sanft im Wind wiegen. Da darf die Akademie nicht schweigen.

© SZ vom 08.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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