Kritik:Bombe im Kopf

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"Die Lücke" von Nuran David Calis im Marstall

Von Ekaterina Kel, München

Im Juni 2004 explodiert eine Nagelbombe in der Kölner Keupstraße. Sieben Jahre lang werden die überwiegend türkischen Bewohner und Geschäftsleute der Straße von den Behörden verdächtigt, den Anschlag verübt zu haben. Werden die Opfer systematisch zu Tätern umgedeutet, bis sich 2011 herausstellt, dass die rechtsextreme terroristische Vereinigung des Nationalsozialistischen Untergrunds, der NSU, dahintersteckt. Die demütigende Vertuschungspolitik und den unterschwelligen Rassismus nahm der Autor und Regisseur Nuran David Calis zum Anlass, um mit drei türkischstämmigen Kölner Bürgern und drei Schauspielern "Die Lücke" zu erarbeiten. Nun war es als Gastspiel des Schauspiels Köln im Marstall zu sehen.

In 18 Szenen tasten sich die Darsteller des Stücks zunächst an übliche Themen der Integrationsdebatte heran. Dann sprechen sie über den Anschlag, über das strukturelle Versagen der Ermittlungen und über die Absurdität des Nationalismus. Ihre Stimmen verschmelzen zum gemeinsamen politischen Protest, der auf der Theaterbühne ausformuliert wird. Die übliche Dichotomie zwischen zwei Kulturen verschiebt sich auf ein gemeinsames zivilpolitisches "Wir" unabhängig von der Herkunft und ein "Die" der Behörden und Institutionen, die organisierten nationalistischen Terror in Deutschland kategorisch ausgeschlossen haben.

"Die Lücke" ist politisches Theater par excellence. Erstens, weil es mit dem Bombenanschlag ein heikles Thema aufgreift. Zweitens, weil das Stück auf gesellschaftspolitische und strukturelle Komplexe außerhalb des konkreten Anschlags verweist, wie die gefährliche Koketterie vieler Bürger mit rechtspopulistischen Aussagen. Und drittens, weil die Zuschauer nach der Aufführung und anschließender Diskussion nicht aufhören konnten, ihre Gespräche den heutigen politischen Missständen in Deutschland und einem fühlbaren Rechtsruck in vielen Ländern zu widmen.

Aber Nuran David Calis' Stück ist auch theatrale Politik, inszenierte Debatte. Darüber, ob das Theater dadurch nur als Mittel zum Zweck benutzt wird, kann und soll man streiten. Doch hier werden Fragen nach Ästhetik und Produktionsweise außer Kraft gesetzt. Dies ist eine andere Kategorie des Theatermachens: eine agierende, in die politische Diskussion tatkräftig eingreifende Form des Theaters, die weit über partizipatives Theater mit Experten des Alltags à la Rimini Protokoll hinausgeht.

Ein Thema blieb erstaunlicher Weise völlig unberührt: Deutschland hat in Sachen Nationalismus keine weiße Weste, man blicke achtzig Jahre zurück. Dass die Vertuschungs- und Verharmlosungspolitik von Heute möglicherweise in einem Zusammenhang zur Mentalität des Totschweigens nach '45 steht, blieb ironischerweise unausgesprochen. Trotzdem gab es Standing Ovations und kräftigen, solidarischen Applaus.

© SZ vom 01.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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