Kriegsverbrecher:Die mühsame Suche nach der Wahrheit

Am 9. September beginnt am Schwurgericht der vielleicht letzte große Kriegsverbrecher-Prozess. Der ehemalige slowakische Hauptmann Ladislav Niznanksy ist angeklagt wegen Mordes in 164 Fällen.

Von Alexander Krug

Der kleine Filip Debnar lag in den Armen seiner Mutter, eingewickelt in eine Wolldecke. Es war kalt an diesem Wintermorgen des 21. Januar 1945, als eine Horde schwer bewaffneter Männer das Dorf Ostry Grun umzingelte.

Einigen jungen Männern war noch die Flucht gelungen, als sie die Motorengeräusche der herannahenden Fahrzeuge gehört hatten. Zurück blieben vor allem alte Leute, Frauen und Kinder. Die Männer, von den einige deutsche, andere slowakische Uniformen trugen, trieben alle Dorfbewohner vor dem Haus der Familie Debnar zusammen, dann ratterten die Maschinenpistolen. 62 Menschen verloren an diesem Morgen ihr Leben, der jüngste Tote war der kleine Filip. Er wurde nur 14 Monate und zwei Tage alt.

Fast 60 Jahre später wird das Massaker in der Zentralslowakei vor einem bundesdeutschen Gericht aufgerollt. Am 9. September beginnt am Schwurgericht MünchenI der Prozess gegen einen der mutmaßlichen Haupttäter des Gemetzels. Die Staatsanwaltschaft wirft dem heute 86-jährigen Ladislav Niznansky nicht nur den Mord an den Bewohnern von Ostry Grun, sondern auch noch zwei weitere Massaker in dem Nachbardorf Klak und in der Gemeinde Ksina vor, wo 18 jüdische Flüchtlinge in einem Erdloch aufgespürt und ermordet wurden.

Insgesamt werden dem ehemaligen Hauptmann Niznansky 164 Morde angelastet, von denen er 20 eigenhändig ausgeführt haben soll. Einer der Zeugen in dem möglicherweise letzten großen Kriegsverbrecher-Prozess in München wird Frantisek Debnar sein, der Bruder des kleinen Filip. Debnar war damals 13 Jahre alt und verlor seine gesamte Familie bei dem Massaker. Er überlebte, weil es ihm gelang, sich während des Mordens unter einem Schreibtisch zu verstecken.

Bis vor kurzem kannte kaum jemand die Namen der rund 670 Kilometer von München entfernten Dörfer Ostry Grun, Klak und Ksina. Am 16. Januar 2004 änderte sich das. An diesem Tag wurde Ladislav Niznansky in seiner Wohnung in der Münchner Staudingerstraße verhaftet. Der Verhaftung folgte nicht nur ein weltweites Medienecho, sie rückte auch ein verdrängtes und vergessenes Kapitel deutscher und slowakischer Geschichte wieder in das allgemeine Bewusstsein.

Anfang 1945 hatte Niznansky mit 27 Jahren bereits eine bewegte Karriere hinter sich. 1936 hatte er sich freiwillig der tschechoslowakischen Armee angeschlossen und wurde zwei Jahre später als Leutnant der Artillerie ausgemustert. Als die Slowakei infolge des Münchner Abkommens 1938 autonom wurde, meldete sich Niznansky erneut freiwillig zum Armeedienst. Autonom war die Slowakei indes nur auf dem Papier, tatsächlich war sie ein Vasallenstaat von Hitlers Gnaden und dem Reich auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Als 1944 der slowakische Nationalaufstand ausbrach, wurde dieser von SS-, Polizei- und Wehrmachtsverbänden brutal niedergeschlagen. Im November 1944 geriet Niznansky in deutsche Gefangenschaft. Die Todesstrafe vor Augen, soll er sich bereit erklärt haben, einer Spezialeinheit zur Partisanenbekämpfung beizutreten. Der Name: Abwehrgruppe 218 Edelweiß.

Gegründet worden war "Edelweiß" im September 1944. Zu der Gruppe gehörten neben einer 113 Mann starken "Spezialeinheit des Slowakischen Arbeitsdienstes" noch eine kaukasische (50 Mann) und eine kosakische (45 Mann) Abteilung. Kommandeur war Major Erwein Graf Thun-Hohenstein, Abkömmling eines der ältesten österreichischen Adelsgeschlechter.

Niznansky soll die slowakische Abteilung geleitet haben. Während Thun-Hohenstein in russische Kriegsgefangenschaft geriet und Ende 1945 in Ungarn hingerichtet wurde, startete Niznansky nach dem Krieg eine Karriere als Doppelagent. Im Auftrag des tschechoslowakischen Geheimdienstes wurde er nach Wien geschickt, wo er sich der militärischen Abwehr der Amerikaner andiente. Später kam er in München beim amerikanischen Sender Radio Free Europe unter, wo er es zum stellvertretenden Ressortleiter schaffte. 1983 ging er mit 65 Jahren in Rente, 1996 erhielt er die deutsche Staatsbürgerschaft.

Die mühsame Suche nach der Wahrheit

Dies sind die dürren Fakten über Niznanskys Lebensweg, der bislang noch nicht weiter aufgehellt werden konnte. Viele Fragen sind offen, beispielsweise warum ein alter Mann noch einen Einbürgerungsantrag stellt. Befürchtete er womöglich, von seiner Vergangenheit eingeholt und an die Slowakei ausgeliefert zu werden? Bereits 1946 war er in Bratislava wegen seiner Mitgliedschaft in der Einheit "Edelweiß" angeklagt, aus Mangel an Beweisen aber freigesprochen worden. 1962 wurde das Verfahren wieder aufgenommen und Niznansky in Abwesenheit zum Tode verurteilt.

Für seinen heutigen Anwalt, den Münchner Strafverteidiger Steffen Ufer, ist der Prozess ohne jede Relevanz, da es sich um einen zeittypischen "kommunistischen Schauprozess" gehandelt habe. Die damaligen Zeugen hätten unter Druck ausgesagt, ohne Beistand von Verteidigern. Einer der damaligen Belastungszeugen hätte später erklärt, er sei im Vorfeld von den Ermittlern mit Pistolen bedroht worden, er habe nur aus Sorge um seine Familie entsprechende Aussagen gemacht.

Ist Niznansky vielleicht selbst nur ein Opfer? Eine winzige Schachfigur im großen Spiel der Mächte, das später als Kalter Krieg in die Geschichtsbücher Eingang fand? Wurde deshalb 1965 das erste deutsche Ermittlungsverfahren von der Münchner Justiz eingestellt? Der Leiter der Münchner Staatsanwaltschaft, Christian Schmidt-Sommerfeld, rechtfertigt die damalige Einstellung heute mit dem Hinweis, die slowakischen Behörden hätten in jener Zeit nur "sehr dürftige" Informationen geliefert.

Ausgeblendet wird dabei der historische Hintergrund. In der Bonner Nachkriegsrepublik diente der Eiserne Vorhang oft als Vorwand, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Auch und gerade die Justiz blieb davon nicht unberührt. Das Versagen nach 1945 bei der Verfolgung von NS-Verbrechern lässt sich kaum besser dokumentieren als durch einen Blick auf die nackten Zahlen.

Bis 2000 wurde nach Auskunft der Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg gegen 106496 mutmaßliche NS-Kriegsverbrecher ermittelt, lediglich in 6497 Fällen kam es zu einer Verurteilung, davon in 166 Fällen zu lebenslanger Haft. Verantwortlich für diese ernüchternde Bilanz waren neben der mangelnden Bereitschaft der Strafverfolgungsbehörden und einer allgemeinen Einstellungspraxis vor allem rechtspolitische Entscheidungen. Bis 1965 verjährte Mord nach 20 Jahren, 1969 verlängerte man diese Frist auf 30 Jahre. Erst am 3. Juli 1979 wurde durch die 16. Strafrechtsreform die Verjährung für Mord ganz aufgehoben.

Den heutigen Ermittlern die Versäumnisse ihrer Vorgänger vorzuwerfen, wäre indes verfehlt. In München hat sich eine neue Generation von Staatsanwälten der NS-Verfahren angenommen und die ermitteln derzeit in allen Richtungen, unter anderem in Italien, Russland und Griechenland. Seit Anfang 2001 wurde auch der Fall Niznansky untersucht, den Anstoß dazu lieferte eine Anfrage slowakischer Behörden. Den Ermittlern gelang es, mit Frantisek Debnar, Anna Bohacova und Anna Novakova drei Überlebende des Massakers von Ostry Grun aufzuspüren.

Die beiden Frauen hatten sich damals unter einem Berg von Leichen tot gestellt, Anna Bohacova war von einer Kugel im Hals getroffen worden, die durch den Mund wieder heraustrat.

Zweifellos ist das Aufspüren von Zeugen ein großer Erfolg der Ermittler, doch die entscheidende Frage ist damit noch nicht geklärt. Wie steht es um die Fähigkeit, zweifelsfrei einen mutmaßlichen Massenmörder zu identifizieren, der damals 27 Jahre jung war und heute nach zwei Schlaganfällen ein gebrechlicher alter Mann ist? Verteidiger Ufer ist sich sicher, dass genau dies nicht möglich ist.

In einer Beschwerde anlässlich der Haftbefehlseröffnung hat er dargelegt, dass nach Angaben der Zeugen die Offiziere der Einheit "Edelweiß" damals deutsche Uniformen getragen hätten. Niznansky aber habe immer eine slowakische Uniform getragen. Schon allein deshalb komme er nicht als Täter in Frage.

Es gibt indes noch einen vierten Zeugen, und der ist sozusagen der Kronzeuge der Anklage. Jan Repasky, 78, war Mitglied der slowakischen Abteilung von "Edelweiß" und unterstand Niznansky. Er hatte nach dem Krieg weniger Glück als sein Chef: 1962 wurde Repasky wegen seiner Teilnahme an den Massakern vom Bezirksgericht Banska Bystrica zu acht Jahren Haft verurteilt.

Es war derselbe Prozess, in dem Niznansky in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde. Repasky belastete damals Niznansky schwer und wiederholte diese Angaben bei einer Vernehmung Ende 2001. Danach hatte Niznansky damals den Befehl ausgegeben, dass aus den Dörfern "keine lebendige Seele entkommen" dürfe. Er habe selber gesehen, wie Niznansky in Ostry Grun etwa 20 Menschen mit seiner Maschinpistole erschossen habe. Später habe dieser persönlich an ausgewählte Männer Auszeichnungen verliehen.

Von den einst 113 Mann der slowakischen Abteilung ist Repasky der einzige, der von den Ermittlern ausfindig gemacht werden konnte und zu einer Aussage bereit ist. Verteidiger Ufer hält Repasky für unglaubwürdig. Seine Aussagen würden vor "Widersprüchen" nur so strotzen, sagt der Anwalt. Doch warum sollte ein Mann fast 60 Jahre nach Kriegsende seinen ehemaligen Kommandeur zu Unrecht eines Massakers beschuldigen? Eine Erklärung dafür hat die Verteidigung nicht, nur eine Mutmaßung. Der verbitterte Repasky wolle sich rächen, da er in Haft gesessen sei, während Niznansky ein Leben in Freiheit genossen habe.

Die Suche nach der Wahrheit ist ein schwieriges Unterfangen. Kriegsverbrecher-Prozesse tragen nach so langer Zeit immer das Risiko, dass am Ende eine zweifelsfreie Zuordnung der Täter nicht mehr möglich ist. Letzte Gewissheit könnte nur Niznansky selbst schaffen, doch er bestreitet alle Vorwürfe seit nunmehr sechzig Jahren. Genau so alt wäre heute Filip Debnar.

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