Kontaktbörse Oktoberfest:Im Rausch der Sinne

Vom schnellen Flirt zum Bund fürs Leben: Das Oktoberfest ist seit 200 Jahren auch eine riesige Kontaktbörse - auch weil Trachten die Männer männlicher und die Frauen weiblicher machen.

Gudrun Passarge

Einmal im Jahr steht München Kopf. Die Theresienwiese leuchtet, brummt, es duftet nach frisch gerösteten Mandeln, nach Steckerlfisch und Hendln - Körperkontakt im Gedränge inbegriffen. Es ist ein Rausch der Sinne, enthemmte Menschen sind auf der Suche nach dem schnellen Glück für die nächste Nacht - oder aber fürs Leben. Wie Maike und Marcus zum Beispiel. Die Landschaftsarchitektin und der Journalist sind seit zwei Jahren verheiratet. "Ich finde die Vorstellung so lustig, dass wir uns an einem Ort kennengelernt haben, den es eigentlich nur einmal im Jahr gibt", sagt Maike.

Kontaktbörse Oktoberfest: Drei sächsisch-bayerische Paare: Zum Wiesn-Jubiläum am 12. Oktober 2010 werden sie vermählt.

Drei sächsisch-bayerische Paare: Zum Wiesn-Jubiläum am 12. Oktober 2010 werden sie vermählt.

(Foto: Catherina Hess)

Wirklich eine Seltenheit, sagt die Psychologin Brigitte Veiz, die ihre Diplomarbeit über die Wiesn geschrieben hat, der Titel: "Masse, Rausch und Ritual". Sie glaubt, "Paare, die sich auf der Wiesn kennengelernt haben, sind vermutlich nicht häufiger als solche, die sich am Marienplatz gefunden haben."

Um die besondere Anziehungskraft des Oktoberfests zu verstehen, muss man vor allem wissen, wie die Menschen ticken. Veiz beschreibt die Wiesn als "Fest der Sinnlichkeit und Körperlichkeit": "Man genießt und völlert mit allen Sinnen." Dazu gehöre Essen und Trinken, aber eben auch die Erotik. Gabriele Weishäupl, Chefin des Fremdenverkehrsamts mit etlichen Jahren Wiesnerfahrung, hat für dieses Phänomen einen einprägsamen Reim gefunden: "Hopfen und Malz erleichtern die Balz."

Geschadet hat die allgemein gute Stimmung sicherlich auch nicht, als Maike und Marcus sich kennenlernten. Es war der erste Besuch der Landschaftsarchitektin auf der Wiesn, obwohl sie schon längere Zeit in Freising wohnte. Sie wollte eigentlich ihren Bruder im Schottenhamel treffen, aber das Zelt war bereits geschlossen, erinnert sie sich. Also fand sie "nach ewiger Simserei" den Weg ins Armbrustschützenzelt zu einer Freundin. "Es war eine Verkettung von komischen Zufällen", sagt auch Marcus, wenn er daran denkt, wie sie sich gefunden haben. Denn er selbst habe sich erst "auf den letzten Drücker" entschlossen, aufs Oktoberfest zu gehen. Er wusste nichts von ihrer Existenz, sie nichts von ihm. Nachdem Maike zu der Gruppe gestoßen war, dauerte es nur eine halbe Stunde, da hatte er schon ihre Telefonnummer.

Die Musik von Andreas Dorau diente den beiden als Vorwand, sich wiederzutreffen. "Das ist der mit Fred vom Jupiter." Marcus wollte am nächsten Tag sein Konzert besuchen. "Das ist sicher nicht meine Lieblingsmusik", sagt Maike heute, "aber ich habe die Gelegenheit beim Schopf gepackt." Sie gingen gemeinsam zu Dorau und blieben zusammen. Heute lebt das Paar in London.

Sexy und erotisch

Sexy, erotisch, so geben sich die Wiesnbesucher gern. Dabei spielt die Tracht keine unerhebliche Rolle, sagt die Psychologin Veiz. "Sie macht die Männer männlicher und die Frauen weiblicher." Ganz anders als im Business-Kostüm dürfen Frauen hier tiefe Ausschnitte mit Rüschen verzieren und mit dem Mieder die Taille betonen. Und die Männer tragen Krachlederne, bei denen das Hosentürl durch prächtige Stickerei betont wird, vom Hirschfänger in der Tasche ganz zu schweigen. Traditionelle Motive der Tracht, wie Hirsche, Gämsen und Auerhähne - sie alle besitzen Symbolcharakter. Sie stehen für Stärke, Brunft und Geld. "Etwa 200 Gämsen müssen für einen großen Gamsbart sterben", sagt Veiz. "Das kann sich ein Mann mit geringem Einkommen nicht leisten."

Doch die traditionellen Geschlechterrollen lassen sich nicht nur an Äußerlichkeiten festmachen. Männer, die erfolgreich den Lukas hauen oder ihren Mut in den verwegensten Fahrgeschäften beweisen - das erzeugt Begeisterung. "Erotische Anziehungskraft funktioniert auf dieser Schiene." Erst vor kurzem habe eine amerikanische Forscherin nachgewiesen, dass es leichter fällt, sich zu verlieben, wenn man sich gemeinsam in gefährliche Situationen begibt.

Dazu gehört zweifelsohne auch eine Fahrt im Fünfer-Looping. "Das gibt einen Adrenalinstoß und Glücksgefühle, die ein ähnliches Empfinden hervorrufen, wie beim Verliebtsein", so Veiz. Die Wiesn, sagt sie, sei ein "dionysisches Fest", "ein kollektiver Erregungszustand verbunden mit dem Gefühl der Glückseligkeit. Die Leute sind verliebt in die Wiesn." Der Alltag spielt auf einmal keine Rolle mehr.

Das kann auch eine Kehrseite haben. Nicht alles ist so, wie es scheint. Bei der Wiesn sieht die Psychologin die "Gefahr der Blendung, wie beim Karneval". Manch einer, der recht schneidig daherkommt, oder manch eine, die sich als Wiesn-Prinzessin aufgebrezelt hat, erweise sich hinterher als völlig anderer Charakter: "Die Realität außerhalb der Wiesn sieht vielleicht ganz anders aus." Und mancher wacht mit einem Kater in einem leeren Bett auf. So wie ihr ein Freund erzählte: "Wieder mal fünf Frauen kennengelernt, aber keine ist geblieben."

München ist eben Singlestadt. Viele sind auf der Suche, auch auf der Wiesn. Sie wisse von einigen Frauen, die gezielt in solche Zelte gingen, in denen vermeintlich besser Situierte verkehrten, um dort jemanden kennenzulernen. Von der eigenen Dynamik solcher Veranstaltungen wusste schon Ödön von Horváth. In seinem berühmten Oktoberfest-Stück "Kasimir und Karoline" lässt er Karoline sagen: "Das Leben ist hart, und eine Frau, die wo was erreichen will, muss einen einflussreichen Mann immer an seinem Gefühlsleben packen."

Trotzdem gibt es sie. Die Wiesnromantik, die über das Rauschhafte der Massen und den schnellen Sex hinausgeht. Günter Steinberg, Wiesnwirt im Hofbräuzelt, hat selbst schon erlebt, wie vor zwei Jahren ein junger Mann plötzlich auf die Bühne sprang. Auf Knien machte er seiner Angebeteten per Mikrofon einen Heiratsantrag. "Er ist dann runtergegangen und hat ihr einen Strauß Blumen und ein Herzerl überreicht."

Im Krankenwagen kennengelernt

Die Werbung war erfolgreich. "Ein Jahr später kamen sie wieder und hatten inzwischen geheiratet." Bei Uwe, 52, und Edith, 44, war es ähnlich. Sie hatten sich 2005 beim Zahnarzt kennengelernt, wo Edith als Verwaltungskraft arbeitet. Ein Ort zum Verlieben, der mit der "Zürcher Verlobung" schon Filmgeschichte geschrieben hat. Die beiden wurden ein Paar. Aber den Antrag, den machte er auf der Wiesn. "Wir waren mit drei Freundinnen von Edith im Garten vom Hofbräuzelt, da kam ich auf die Idee, ihr den Antrag zu machen, so richtig auf Knien." Anschließend feierten die Verlobten mit Freunden im Zelt.

Der Gaudi halber hat Edith ein störendes Bändchen ihrer Bluse abgeschnitten und an den Maßkrug gebunden. "Das war unser Verlobungskrug." Als er leer war, verschwand er vom Tisch, nur um bei der übernächsten Runde gefüllt wieder aufzutauchen, wie sich Uwe erinnert. "Das haben wir natürlich als gutes Omen gewertet." Die zwei haben vergangenes Jahr geheiratet. Das gute Omen steht bei ihnen daheim im Regal.

Manche der auf dem Oktoberfest geschlossenen Beziehungen halten schon ein halbes Menschenleben. "Wir bekommen immer wieder Briefe von Menschen, die ihre Goldene Hochzeit feiern, und die sich auf der Wiesn kennengelernt haben", berichtet Gabriele Weishäupl. Solchen Paaren helfe die Stadt gelegentlich, einen Platz im Bierzelt zu finden, in dem sie das besondere Ereignis genau an dem Ort feiern können, an dem alles begonnen hat.

Andere Traumhochzeiten sollen noch folgen. Die Stadt München hat die Jubiläumswiesn zum Anlass genommen, drei Paaren die Chance zu geben, am 12. Oktober von Oberbürgermeister Ude in der Alten Kongresshalle an der Theresienwiese getraut zu werden. Philipp Lakatos, 30, und Nadine Schneider, 30, erfüllten die Bedingungen und gehören zu den Ausgewählten. Er, der Mediziner, kommt aus München, sie, die Krankenschwester, aus Sachsen. Damit soll an das Kronprinzenpaar Ludwig und Therese erinnert werden. "Wir haben uns ganz romantisch im Krankenwagen kennengelernt", erzählt Lakatos mit einem Augenzwinkern. Genau wie seine Freundin hat er nebenher bei einem Rettungsdienst gejobbt.

Trotzdem wären sie wohl ohne die Wiesn nicht zusammengekommen. Denn erst bei einem Festzeltbesuch mit den Arbeitskollegen wurden sie ein Paar. Auch als alle anderen schon gegangen waren, saßen die beiden noch in der Box, "wir sind als letzte übriggeblieben". Für das Paar ist es Ehrensache, am 12. Oktober in Tracht vor den OB zu treten. Schließlich sei man "mit Lederhosn und Dirndl in Bayern o'zogn", wie der Mediziner sagt. Und die Hochzeit in Weiß, die folgt eben am Wochenende danach.

Wer auch in diesem Jahr wieder sein Glück probieren will auf dieser riesigen Kontaktbörse: Moderne Technik könnte helfen. Da gibt es beispielsweise eine Internetseite mit Namen "Wiesn-Liebe", eine kleine Schwester von Facebook und Co. speziell für Oktoberfestfans. Oder ein Wiesn-App fürs iPhone, mit dem sich die Leute nach dem Motto "Flirt and Find" direkt auf der Wiesn verabreden und finden könnten. Die Psychologin ist skeptisch. "Ich weiß nicht, ob das so zweckmäßig ist. Dann gucken sich die Leute gar nicht mehr in die Augen, sondern suchen nur noch per Navi, wo der andere steht." Hoffentlich sind auch alternative Routen bei geschlossenen Zelten eingegeben.

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