Kommentar:Wohnen ist ein Grundrecht

Gerichte haben jetzt zu klären, ob dem Eigentümer der Verzicht auf eine Gewinn maximierende Verwertung seiner Wohnungen zuzumuten ist

Von  Thomas Kronewiter

Abriss und Neubau sind Alltag in einer Stadt wie München, die Jahr für Jahr ihre Neubürger nach Tausenden zählt. Ohne Nachverdichtung ist urbane Entwicklung längst nicht mehr denkbar, zumal das Stadtplanungsgeschenk der vergangenen Jahrzehnte - die frei gewordenen ehemaligen Kasernen - inzwischen weitgehend abgehakt ist.

Wenn deshalb Mieter großer Wohnungsbaugesellschaften wie etwa der GWG oder der Gewofag Post bekommen, die den bevorstehenden Abriss des eigenen Hauses ankündigen, ist dies für die Betroffenen zwar immer mit Aufregung verbunden, aber meist auch mit einem in der Regel akribisch vorbesprochenen Umzugsplan - gewöhnlich in eine Ersatzwohnung des gleichen Vermieters. Nun hat es an der Sailerstraße mehr als 70-fach eingeschlagen, aber ganz ohne Umzugsplan: Gut 70 kurzfristige Kündigungen sind ahnungslosen Mietern ins Haus geflattert, vordergründig mit dem Hinweis auf marode Bausubstanz begründet, kaum verhohlen aber ist die Absicht auf Gewinnmaximierung.

Diesmal ist der Vermieter keine gesichtslose Gesellschaft, kein anonymer Fonds, es handelt sich auch nicht um einen Fall versagender Bürokratie. Einem Unternehmer reicht sein Ertrag nicht. Dass dieses Begehren nicht gleich von vorneherein abzuschmettern ist, wie die geltende Rechtsprechung untermauert, wirft ein sehr bezeichnendes Licht auf den Immobilienmarkt in München und die ganze Branche, die aber gleichzeitig mehr ist als nur eine Wirtschaftsbranche. Denn Wohnen ist ein Grundrecht, die Basis jeder bürgerlichen Existenz.

Gerichte werden nun die vom Bundesgerichtshof festgelegte Abwägung zwischen dem Wohn- und dem Eigentumsrecht vornehmen müssen. Sie haben zu klären, ob dem Eigentümer der Verzicht auf eine Gewinn maximierende Verwertung zuzumuten ist. Ob die Mietparteien, die die Nerven dazu haben, ein solches Verfahren durchzustehen, am Ende siegen oder doch ausziehen müssen: Opfer sind sie allemal. Wer schläft schon gut, wenn er nicht weiß, ob er am nächsten Tag noch ein Zuhause hat? Wie gut der Immobilienverwerter, der auch ein Vertreiber ist, schläft, muss er selbst beantworten. Diese moralische Frage spielt keine Rolle in den Verhandlungen und Verfahren, die jetzt anstehen.

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