Kommentar:Wendepunkt und fester Wille

Fast 20 Jahre nach Eröffnung des Literaturhauses steht der erste Wechsel in der Leitung an. Die neue Chefin wird unter anderem dafür zu sorgen haben, dass das Haus noch stärker über die Stadtgrenzen hinaus leuchtet

Von Antje Weber

Ich weiß es genau: Ich stehe am Scheidewege. An einem, vielleicht dem bedeutungsvollen Wendepunkte", schreibt Erich Kästner als junger Mann und fährt fort: "Klarste Überlegung und festeste Willensanspannung täten not." Diese Notiz des berühmten Schriftstellers ist derzeit in einer Ausstellung des Literaturhauses am Salvatorplatz zu lesen. Sie lässt sich auch auf die Situation dieser für die Münchner Literaturszene wichtigen Institution selbst münzen: Fast 20 Jahre nach der Eröffnung des Hauses steht nun der erste Wechsel der Leitung an. Reinhard G. Wittmann, 66, wird zum 1. Juli abgelöst von Tanja Graf, 53. Es handelt sich also um eine, wenn auch behutsame, Verjüngung. Ist es auch ein bedeutungsvoller Wendepunkt?

Das ist es zweifellos - auch wenn die neue Richtung noch nicht klar abzusehen ist. Dass der Stiftungsvorstand eine Frau wählte, ist auf alle Fälle eine gute, zukunftsweisende Entscheidung. Außer Frage steht auch, dass Tanja Graf viele Schlüsselqualifikationen für den Posten mitbringt: Sie kennt sich als Lektorin und Verlegerin mit Zahlungsflüssen so gut aus wie mit poetischem Sprachfluss. Sie ist bestens vernetzt in der Szene, sie wird vermutlich vor allem die Zusammenarbeit mit den Verlagen stärken - und ihr Herz wird dabei sicher heftiger für die kleinen und unabhängigen unter ihnen schlagen als das ihres Vorgängers. Ob sie auch inhaltlich und organisatorisch ein Händchen für innovative Veranstaltungsformen und packende Ausstellungen hat, ob sie es schafft, das Haus noch mehr für die Jugend zu öffnen und neben den durchreisenden auch für die Münchner Schriftsteller?

Das wird sich weisen. Immerhin setzte sich Graf bereits als Verlegerin die "sorgfältige und langfristige Betreuung von Autoren und Werken" als Ziel. Doch es ist keine kleine Aufgabe, dem größten deutschsprachigen Literaturhaus neue "Impulse für eine zeitgemäße, lebendige Literaturvermittlung" zu geben, wie es in der Stellenausschreibung hieß. Um das in Public-Private-Partnership finanzierte Haus, an das viele Menschen und Institutionen unterschiedlichste Wünsche herantragen, noch stärker über die Stadtgrenzen hinaus leuchten zu lassen, ist neben ein paar Ideen eine große Portion Unbeirrtheit nötig. Das Logo des Graf Verlages zierte jedenfalls ein Steinbock. Dies ist bekanntlich ein Tier, das wendig von Fels zu Fels hüpfen, sich aber auch mit einem beeindruckenden Geweih zur Wehr setzen kann. Beide Eigenschaften wird Tanja Graf gebrauchen können, neben - natürlich - klarster Überlegung und festester Willensanspannung.

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