Kocherlball:So dermaßen schön

Tanzen und Musik bis zum Sonnenaufgang machen im Englischen Garten 10 000 Besucher glücklich - und müde

Von Andreas Schubert

Es ist einer der unvergleichlichen München-Momente: Sonnenaufgang im Englischen Garten, im Biergarten unter Kastanien, eine Mass Bier vor sich und Weißwürste. Schon um 3 Uhr hat es wieder Hunderte Münchner zum Chinesischen Turm gezogen. Als dann der Kocherlball offiziell um 6 Uhr beginnt, sind es schon circa 10 000 Besucher. Die meisten von ihnen sind in Tracht gekommen, ein paar Hundert tragen originalgetreue Kostüme, wie sie bei den Bediensteten um 1900 üblich waren, bei den sogenannten Kocherln. Bevor er 1904 verboten wurde, weil es die Kocherl angeblich arg zu wild trieben, war der Ball die einzige Möglichkeit, sich für ein paar Stunden im Morgengrauen zu vergnügen, bei Volkstänzen, Bier und Brotzeit. Dann, in den späteren Morgenstunden, war wieder der Dienst für die höheren Herrschaften anzutreten.

Seit 1989 gibt es diese Tradition wieder im Englischen Garten, und bis heute hat sich der Ball zum gesellschaftlichen Ereignis in der Landeshauptstadt entwickelt. Dieses Jahr haben die Feiernden Glück, denn das Wetter spielt mit, es ist herrlich sommerlich und zumindest am Anfang noch angenehm kühl, dennoch gibt es kein schlimmes Gedränge wie bei früheren Bällen. Nur auf der Tanzfläche geht es wie immer eng zu, richtig zu tanzen ist kaum möglich. Die beiden Tanzmeister Katharina Mayer und Magnus Kaindl lassen sich davon aber nicht beirren und führen unermüdlich die verschiedenen Tänze wie Zwiefacher, Française und natürlich Walzer vor. Mit ihrer rauen Stimme animiert Katharina Mayer die Menge auf der Tanzfläche, und es macht unglaublich Spaß, sich trotz der wenigen Quadratzentimeter, die man exklusiv für sich und die Tanzpartnerin zur Verfügung hat, zur Musik zu bewegen.

Doch viele Stammgäste überlassen das Drehen und Hüpfen den anderen, führen lieber ihre Kostüme aus und genießen es, für Hunderte Smartphone-Fotolinsen zu posieren. Bettina von Haken zum Beispiel, vom Verein Vorstadt-Hochzeit anno 1905, spielt ihre Rolle perfekt. Sie trägt ein maßgeschneidertes Polonaisekleid im Stil von anno 1880, wie sie erklärt. "Ich führe gerade das Gewand der Herrschaft aus", sagt sie augenzwinkernd. Und das war die eigentliche Idee, als der Kocherlball in der Neuzeit wiederbelebt wurde: So aufzutreten und zu feiern, wie es mutmaßlich früher war. Bettina von Haken hat seit 1989 keinen Ball ausgelassen, diesmal sei sie aber erst "sehr spät" zum Chinesischen Turm gekommen - um 3.30 Uhr.

Sich noch im Dunkeln im Kerzenschein am Biertisch niederzulassen, die Morgenluft zu genießen und darauf zu warten, bis es die ersten Sonnenstrahlen durchs Laub der Bäume schaffen, ist fast das Schönste am Kocherlball. Davon schwärmt auch ein malerisches Damenquartett aus Petershausen, bestehend aus Bobby und Barbara Sommerer, Barbara Schaller und Mariele Niessner. Traditionell tragen sie zum Kocherlball selbst gefertigte Hüte mit Blumen aus Seide, die jeweils farblich zum Dirndl abgestimmt sind.

Sehen und gesehen werden ist Ihnen ebenfalls wichtiger als die Musik. Und wer Oliver Dengler begegnen will, findet ihn auch eher zwischen den Tischreihen. Er trägt eine nach originaler Vorlage gefertigte Rittmeister-Uniform aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, das komplette Ornat vom "1. Schwere-Reiter-Regiment Prinz Karl von Bayern" ist original alt und stammt von seinem Urgroßvater. Mit Pickelhaube und Säbel würde ihm die Münchner Française vermutlich schwerfallen. Da sind Lederhose und Dirndl dann doch irgendwie praktischer - und als von neun Uhr an richtig die Sonne herunter brennt, wird die Stimmung an Tischen und Tanzfläche dezent rauschhaft und ausgelassen, wie eine Vorstufe der Wiesn, nur viel schöner. Münchens OB Dieter Reiter, der sonst regelmäßig am Kocherlball mit seiner Frau Petra seine Tanzkünste vorführt, hat dieses Jahr etwas verpasst. Er habe sich entschuldigt, ist zu hören, am Abend zuvor sei er bei Klassik am Odeonsplatz gewesen und sei ein wenig matt. Wundert aber nicht: Was an diesem Wochenende in der Stadt an Veranstaltungen los war, ist sogar für einen Oberbürgermeister zu viel. Da sei ihm Ausschlafen gegönnt. Als der Mittag naht und die Temperatur sich allmählich der 25-Grad-Marke nähert, holen viele der Feiernden im Gras den versäumten Schlaf nach. Sie erholen sich von einem Sommermorgen in ihrer Stadt, wie er schöner und lässiger nicht sein könnte.

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