Klassische Musik:Der gute Ton

Klassische Musik: "Bitte stellen Sie mich nicht so zentral als Ego-Trip dar", sagt Wilhelm Meister. "Meine Arbeit war immer eine Arbeit im Team."

"Bitte stellen Sie mich nicht so zentral als Ego-Trip dar", sagt Wilhelm Meister. "Meine Arbeit war immer eine Arbeit im Team."

(Foto: Claus Schunk)

Lorin Maazel, Sir Colin Davis, Herbert von Karajan, Mariss Jansons: BR-Tonmeister Wilhelm Meister hatte bei seinen Aufnahmen häufig mit berühmten Dirigenten zu tun - eine "Zusammenarbeit auf Augenhöhe", wie der Musikfachmann selbst sagt. Jetzt geht er in Rente

Von Karl Forster

Bei der Frage nach den Höhepunkten in seinem beruflichen Leben bittet Wilhelm Meister dann plötzlich um ein klein wenig Geduld. Den Dirigenten Bernard Haitink hat er schon genannt und dessen Einspielung der Oper "Daphne". Und die der Orchesterwerke von Richard Strauss mit Lorin Maazel am Pult. Natürlich auch den "Fidelio" unter Sir Colin Davis. Aber da war dann noch was. "Da muss ich jetzt mal spicken." Und Meister blättert in den feinsäuberlich handgeschriebenen Notizen, mit denen er sich für dieses Gespräch vorbereitet hat, und blickt dann triumphierend auf. "Ja, 'Idomeneo', auch mit Colin Davis, darf ich da nicht vergessen, das war großartig."

Nun ist das Wörtchen "triumphierend" vielleicht etwas irreführend im Zusammenhang mit Meister - und es fällt einem nur ein, wenn man schon etwas länger mit diesem so leisen, dezenten Mann gesprochen und sich an diese zurückhaltende Art gewöhnt hat. Er hat ja nur das Blatt mit der Notiz hochgehoben, die Augenbrauen nach oben gezogen und zufrieden gelächelt, als er Mozarts "Idomeneo" dem britischen Dirigenten zuordnen konnte. Und man geht wohl nicht falsch in der Annahme, dass all diese berühmten Dirigenten ein ähnlich freundliches Urteil über Wilhelm Meister abgeben würden. Er war ja bei diesen Aufnahmen ihr Tonmeister.

Viele Menschen, auch wenn sie gerne klassische Musik hören, wissen gar nicht, dass es diesen Beruf gibt: Tonmeister. Und wenn sie es wissen, ahnen sie kaum, was so ein Meister des Tons eigentlich macht. Dass Meister jetzt im Alter von 67 Jahren sein Amt als Tonmeister beim Bayerischen Rundfunk (BR) aufgibt, zwei Jahre nach der offiziellen Verrentung, ist ein höchst willkommener Anlass, diesen Beruf ein bisschen unter die Lupe zu nehmen und sich dazu dieses Mannes zu bedienen, der beim BR und dessen musikalischen Formationen, vor allem beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, seit 38 Jahren für den guten Ton gesorgt hat. Und der sich jetzt, privatim und mit großer Verve, noch mehr als früher dem aktiven Musizieren zuwenden will: der Kammermusik, dem Cello. Das hat er ja schließlich studiert, damals in den Siebzigerjahren in Detmold, eine der wenigen Musikhochschulen hierzulande, die auch das Studium des Tonmeisters anbietet.

Aber warum wird man Tonmeister, wenn man dazu auch ein höchst anspruchsvolles Instrumentalstudium absolvieren muss? Warum einen Beruf ergreifen, von dem viele nicht einmal wissen, dass es ihn gibt? Warum sich ein Leben lang auf Debatten mit irgendwelchen Dirigenten einlassen, anstatt selbst am Pult zu stehen? Meister sagt, er habe nie etwas anderes werden wollen, seit er damals, im Domchor seiner Heimatstadt Aachen, einen Tonmeister des WDR bei der Arbeit beobachten konnte. Diesen habe er dann gefragt, wie und wo man das werden könne. Detmold, habe der gesagt. Und so kam es, dass Meister in der Stadt im Teutoburger Wald zum Meister wurde, zum Meister des Tons.

Meister sitzt an dem kleinen Holztisch im Wohnzimmer des gepflegten Reihenhäuschens in Heimstetten am Ostrand der großen Stadt. In der Regalwand mit den vielen CDs ist Platz gelassen für ein Klavier, davor ist auf dem hellen Teppich viel Raum, wohl für die Mitmusikanten, mit denen er, so oft es geht, Kammermusik macht. Klassisches, Romantisches, auch mal was aus dem 20. Jahrhundert.

Vier Jahre hat er nach der Detmolder Hochschulzeit in Köln gearbeitet, bei der EMI Electrola, einem führenden Label vor allem für E-Musikalisches. "Karajan" kommt spontan als Antwort auf die Frage, wer damals einer der Stars gewesen sei. Und Herbert von Karajan, Chef der Berliner Philharmoniker, war ja auch ein pingeliger Pendant, was den konservierten Klang angeht, und stets auf der Suche nach neuen, immer noch besseren Techniken. Für den jungen Tonmeister Wilhelm Meister sicher auch eine Herausforderung.

Die größte, dramatischste und sicher auch anstrengendste berufliche Revolution war der Wechsel von der analogen in die digitale Welt Mitte bis Ende der Neunzigerjahre. Da war Meister längst in München und beim BR etabliert. Denn schon 1979, nach vier Jahren bei der EMI, hatte ihn ein ehemaliger Kommilitone hierher gelockt mit der Botschaft, es sei eine Stelle beim BR frei. So kam Wilhelm Meister vom Rhein an die Isar und fand in einer Tontechnikerin des Hauses seine große Liebe. Die vier Kinder der Meisters übrigens haben beruflich nichts mit Musik am Hut. "Die sind alle was Vernünftiges geworden", sagt der Vater und lächelt wieder ein bisschen.

Was Vernünftiges? Fragt man Meister, was denn nun ein Tonmeister genau sei, klingt die Antwort alles andere als unvernünftig: "Der Tonmeister, auch Musikregisseur genannt, hat die Aufgabe, bei Musikproduktionen die Aufnahme zu leiten. Also bei der Übertragung von Live-Konzerten und bei Produktionen ohne Publikum für CD oder Archiv. Er ist, zusammen mit dem Toningenieur, dem Tontechniker und dem Mikroassistenten verantwortlich für das Klangbild, das er aus der Partitur entnehmen kann und den Intentionen der Musiker und des Dirigenten entsprechend aufbereitet." Das klingt jetzt recht trocken und wenig abenteuerlich. Aber schließlich hat sich Herr Meister das ja auch exakt so aufgeschrieben. Wenn er dann aber erzählt, was es mit solch einer "Intension" auf sich haben kann, versteht man plötzlich, warum dieser so leise Mann genug Autorität besitzt, um mit Stars von Bernstein über Celibidache bis Mariss Jansons höchst erfolgreich zusammenzuarbeiten. Und wenn man bedenkt, dass so eine digital gespeicherte Symphonie, aufgenommen mit bis zu 50 Mikrofonen und ebenso vielen Kanälen auf dem Mischpult, bis zu dreimal eingespielt wird und dann aus fünfzig Klangschnipseln so zusammengebastelt wird, dass Tempo, Intonation und dynamische Balance wirklich perfekt sind, mag man erahnen, welche Arbeit einem Tonmeister abverlangt wird. Ein Laie kann sich beispielsweise auch nicht vorstellen, dass man eine solche Schnipselpassage beim Einpassen ins Gesamtwerk wenn nötig um bis zu zehn Prozent langsamer oder schneller machen kann, ohne dass die Tonfrequenzen sich ändern. Meister sagt da nur ganz trocken: "Solch ein Klangniveau erwartet heute der Hörer."

Für dieses Niveau aber gibt es keinen Applaus, Meister stört das nicht. Für ihn sind ein zustimmendes Nicken, ein kleiner Dank der Musiker genug an Anerkennung. Oder ein Preis wie damals, in New York, wo er als Tonmeister für die "Best Orchestral Performance" durch das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Mariss Jansons für die Einspielung der 13. Symphonie von Dmitri Schostakowitsch 2005 den Grammy bekam. Der steht heute in den Regal mit den vielen CDs. Und als Meister ihn auf den Tisch stellt, weicht diese souveräne Ruhe einem fast spitzbübischen Lächeln: Ja, das war schon was, damals in New York.

Und die Arbeit mit Jansons, das sei sowieso ganz wunderbar. 15 Jahre dauert jetzt schon dieses Zusammenwirken. Man kennt sich, man vertraut sich, und wenn man Meister so zuhört, wie er über den Chefdirigenten der BR-Symphoniker spricht, ist nicht auszuschließen, dass zwischen diesen beiden sogar eine Art Freundschaft entstanden ist. Wobei doch der Tonmeister auch dem Dirigenten mal was sagen darf. Man arbeitet ja schließlich "auf Augenhöhe".

So wie damals bei Sergiu Celibidache, dem legendären Langsam-Dirigenten der Münchner Philharmoniker. Meister hatte eine Aufnahme von Tschaikowskys sechster Symphonie, der grandiosen "Pathétique", zu leiten, die dafür aus drei Konzerten zusammengeschnitten werden sollte. Dieses Werk hat nun die Besonderheit, dass der dritte Satz mit gar mächtigem G-Dur-Getöse endet und der vierte dann in Pianissimo und traurigem Moll beginnt, ein kompositorisches Wagnis damals und ein Umstand, der erstens dazu führt, dass immer ein paar Deppen im Publikum in die Pause reinklatschen und zweitens viele Dirigenten eben diese recht deutlich gestalten. Celibidache nun, jeglicher Hektik abhold, dehnte damals die Pause zwischen Satz drei und vier auf stolze zwei Minuten. Für die Rundfunk-Tonmeister ein Albtraum. Meister dachte zuerst, es sei vielleicht jemandem im Orchester schlecht geworden. Zwei Minuten nichts im Radio, das ist ein absolutes No-Go. Also marschierte der Tonmeister zum Pultmeister, um ihn darauf hinzuweisen, dass so eine Pause der Radiohörer nicht nachempfinden könne und er gerne diese Pause zusammenschneiden würde. Und Celibidache reagierte, wie er in solche Fällen immer reagierte: erbost. "Junger Freund", raunzte er Meister an, "junger Freund, das sind zwei verschiedene Welten, die haben nichts miteinander zu tun!" Um dann gnädig zu ergänzen: "Machen Sie halt Pause solange wie möglich." Es wurden dann 20 Sekunden. Und das war, sagt Wilmhelm Meister, "eigentlich immer noch zu viel".

Er hat sich ein paar solcher Anekdoten notiert. Zum Beispiel jene, als man in der prächtigen Kirche von Kloster Weingarten ein Orgelkonzert aufzunehmen hatte. Doch jedes Mal, wenn der Organist das "Plenum", das volle Werk registrierte, flohen die Tauben vor dem Lärm aus dem Orgelraum, an eine Aufnahme war da nicht mehr zu denken. Da kam der Mesner in höchster Not, sagte, das habe man gleich erledigt, nahm sein Luftgewehr und schoss so lange auf die Tauben, bis sie aus dem Kirchenraum geflohen waren. Oder zumindest keine mehr herumflog. Meister konnte mit der Arbeit beginnen.

Oder die Aufnahmen mit dem "sehr berühmten Tenor, dessen Name ich aber nicht nenne". Der hat, weil indisponiert, Probe und Generalprobe für eine Boheme-Live-Aufnahme geschwänzt, wollte nun aber partout eine Stunde vor Beginn noch schnell mit dem Orchester die berühmte Arie "Che gelida manina!" und das dort vorgegebene hohe "H" checken. Das "H" sei wunderbar gewesen, lobt dann auch Meister nach dem Testlauf, aber ob er denn nicht an dieser einen anderen Stelle "etwas mehr" geben könne. Da wird der Herr Tenor fuchsteufelswild. "Was? Ich soll mehr geben? Dann musst du dir suchen eine andere Tenor!" Sagt es und stürzt zur Türe. "Das Orchester hat geguckt, der Dirigent hat geguckt." Und auch der Tonmeister ist schwer verdattert. Da dreht sich der Tenor um, lacht übers ganze Gesicht und sagt. "Ja, ja, wir gehen live." Der hat, sagt Meister, seinen Spaß gehabt. Und man möchte darauf wetten, dass der Name dieses Tenors mit einem "V" beginnt.

Nun verlässt man einen Tonspezialisten, der mit den BR-Symphonikern so gut wie alle großen Konzertsäle der Welt bespielt hat, nicht ohne jene Frage, die manch Münchner als eine für die Stadt überlebenswichtige erachtet: Wie bitte, Herr Meister, halten Sie es mit dem Gasteig? Ist dieses Wehklagen nicht pure Hysterie? Da braucht Meister keine Notizen vom Tisch und keine Sekunden des Nachdenkens. "Nein, das ist keine Hysterie. Die Philharmonie ist einfach nicht gut." Zum einen fürs Publikum: "Es gibt zu viele schlechte Plätze." Zum anderen für die Musiker: "Die können sich gegenseitig nicht hören." Und er erzählt von einer Aufnahme neulich, Beethovens viertes Klavierkonzert stand auf dem Programm. Nach der Probe wollten die Holzbläser mit dem Pianisten noch etwas ausprobieren. "Ich stand direkt bei den Holzbläsern. Und wir konnten den Flügel nicht hören!"

Dann stellt Wilhelm Meister den Grammy wieder an seine Stelle zurück und sagt zum Schluss: "Bitte stellen Sie mich nicht so zentral als Ego-Trip dar. Meine Arbeit war immer eine Arbeit im Team. Sonst würde das nicht funktionieren."

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