"Kirschgarten" am Residenztheater:Öder Bruchbudenzauber

Jubel, Trubel, Trunkenheit: Calixto Bieito fällt am Münchner Residenztheater polternd über Tschechows "Kirschgarten" her.

Christine Dössel

Der spanische Regisseur Calixto Bieito ist immer für einen Aufreger gut. Man nennt ihn einen "Skandalregisseur". Aber keine Sorge, skandalös ist nichts an Bieitos Version von Tschechows "Der Kirschgarten" im Münchner Residenztheater, seiner ersten Arbeit als Gastregisseur unter der neuen Intendanz von Martin Kušej, eher ist sie desaströs.

"Kirschgarten" am Residenztheater: Ende eines Polterabends: Marie Seiser als Anja.

Ende eines Polterabends: Marie Seiser als Anja.

(Foto: Matthias Horn)

Und die große Aufregung, die der Abend erzeugt, erfasst auch nicht etwa das Publikum, sondern spielt sich allein auf der Bühne ab, wo ein unerklärliches Tohuwabohu herrscht, ein Gerenne und Gebelle, ein Getändel und Geplänkel, ein Gekreische und Geplapper, ein Gefuchtel und Gebussel, als habe jemand Tschechows Provinzmelancholiker auf Speed gesetzt - oder was immer das für eine Droge ist, die Bieito hier seinen Schauspielern zum Tschechow-Push-up verabreicht hat.

Jubel, Trubel, Trunkenheit: In zweieinhalb pausenlosen Stunden peitscht Bieito seine zwölf Darsteller wie eine aufgekratzte Schar von Operetten-Chargen durchs Stück, bis dieses komplett niederkartätscht und die Bühne, ohnehin eine Ruine, vollends zusammengebrochen ist. Am Ende große Ratlosigkeit (und einige Buhs) ob der grandiosen Themaverfehlung, schließlich sollte ja nur - pars pro toto für die alte Zeit - der Kirschgarten auf dem Gut der Ranjewskaja abgeholzt werden, nicht gleich das ganze Stück.

Im "Kirschgarten", seinem letzten Drama, uraufgeführt 1904, erzählt Tschechow von einer feudalen Gesellschaft, die sich selbst überlebt hat. Dem rauen Wind der neuen Zeit wissen die Geld- und Zeitverschwender rund um die bankrotte Gutsbesitzerin Ranjewskaja nicht standzuhalten. Sie sind Wirklichkeitsflüchtlinge, Müßiggänger, Träumer - Menschen, die die Krise nicht wahrhaben und ihr dekadentes Luxusleben fortführen wollen, und sei es auf Pump. So kommt das Gut unter den Hammer, und sie müssen Abschied nehmen.

Es ist eine Vertreibung aus dem Paradies - hinein in die Moderne, die Realität, den Globalkapitalismus, die Eurokrise, oder wie immer man diesen Text für die Gegenwart deuten möchte. Dass es der kritischen Zeitbezüge viele gibt, liegt auf der Hand, nicht umsonst hat der "Kirschgarten" derzeit im Theater Hochkonjunktur; es ist das Stück der (letzten) Stunde, die nicht nur gewissen EU-Ländern gerade schlägt. Doch wer dachte, dass gerade der Spanier Bieito darin eine Dringlichkeit auszumachen hätte, wird von der exaltierten Benutzeroberflächlichkeit der Inszenierung grob enttäuscht.

Die Vertreibung aus dem Kirschgarten-Paradies ist hier vor allem: eine Tschechow-Heimeligkeits-Austreibung. Ein Exorzismus, der aller Psychologisierung, Sentimentalisierung und atmosphärischen Wohlfühlerei den Garaus und dafür dem Geschehen Beine machen soll. Das Ergebnis: Hochdrucktheater ohne Tiefgang und Seele, weder berührend noch komisch, auch inhaltlich nicht aussagekräftig, sondern einfach nur expressiv und tönend hohl - jede Szene so einsturzgefährdet wie der brüchige Fassaden-Rohbau, den Rebecca Ringst auf die Bühne gestellt hat.

Schaut aus, als sei das Haus ausgebombt worden, in den hinteren Fensterlöchern sitzt eine vierköpfige Combo mit aschfahl geschminkten Gesichtern, die in der Ball-Szene zum Salsa aufspielt und gelegentlich Albtraum-Grusel erzeugt. Was sich hier in aller physischen Überspanntheit abspielt, soll vielleicht auf ein Krankheitsbild verweisen (manisch-panisch-depressiv), ist aber nichts als öder Bruchbudenzauber. Zwischen den Figuren, ob sie sich nun abknutschen, wegstoßen, watschen oder betatschen - und sie tun das in pathologischer Dauerübergriffigkeit -, entsteht nie eine glaubwürdige Beziehung, somit auch keine Spannung, keine Emotion.

Der Regisseur lässt seine Schauspieler regelrecht im Stich, lässt sie chargieren, outrieren, gerne auch auf allen Vieren - wie etwa Sophie von Kessel, die als flatternd sich in Stimmungsschwankungen hineinhysterisierende Ranjewskaja so schön, aber auch so künstlich und nichtssagend wie ein Model ist, vielleicht sogar eine Fehlbesetzung.

Manfred Zapatka macht es sich als ihr Bruder Gajew onkelhaft gemütlich in seiner Rolle, Marie Seiser bedient als Anja süßlichste Tochter-Klischees, Thomas Gräßle hat als klampfender Pechvogel Jepichodow rein gar keinen Witz, Lukas Turtur als ewiger Student Trofimow ebenso wenig politischen Furor. Und was Jürgen Stössinger aus dem alten Diener Firs macht, ist eher ein Silvestersketch à la "Dinner for One".

Wären da nicht kleine Lichtblicke wie das traurig-tapfere Sehnsuchtsgesicht von Friederike Otts Warja und dazu der Großeinsatz, mit dem Guntram Brattia den Emporkömmling und Kirschgarten-Ersteigerer Lopachin spielt, man müsste verzweifeln ob der vielen verschenkten Chancen. Brattia startet mampfend aus dem Parkett heraus in die Rolle, gibt mit hochenergetischer Minderwertigkeitskomplexität den Geschäftsmann, Banausen, Macho und Proll. Mit einem "Lasst knacken!" macht er sich über die Bäume her - offensichtlich auch Bieitos Motto als Regisseur.

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