Kindesmissbrauch:Allein gelassen mit der Angst

Ein Sexualstraftäter verfolgt eine Neunjährige -- Polizei und Justiz sind keine große Hilfe. Nur der Geistesgegenwart des Mädchens ist zu verdanken, dass nichts Schlimmeres passiert ist.

Von Birgit Lutz-Temsch

Beinahe wäre es passiert. Beinahe hätte sich der Sexualstraftäter Andreas R., der zur Bewährung auf freiem Fuß war, wieder an einem Kind vergangen. Wäre es geschehen, der Fall läse sich wie die Chronik einer angekündigten Katastrophe. Denn dass nichts passiert ist, ist weder der Justiz noch der Polizei zuzurechnen, sondern einigen glücklichen Umständen und der Tatsache, dass sich der Pädophile als Opfer ein aufgewecktes Mädchen ausgesucht hatte.

Die Chronik beginnt 1986, da ist Andreas R. 15 Jahre alt. Angeblich missbraucht er in Passau einen fünfjährigen Nachbarsjungen, was aber erst 1994 angezeigt wird. R. wohnt da schon in München, also befragt ihn die Münchner Kripo und schickt die Ergebnisse nach Passau. Dort verläuft sich die Spur, der Vorfall wurde offenbar nie weiter verfolgt.

1993 fängt Andreas R. an, seine damals fünf Jahre alte Stieftochter zu missbrauchen. Als sie älter ist, vergewaltigt er sie, mindestens 23 Mal, dabei geht er brutal vor. Zum letzten Mal vergeht er sich am 19. Juli 1998 an dem Mädchen. Drei Tage später vertraut er sich seiner Mutter an, die ihn anzeigt.

R., der unter anderem wegen Sachbeschädigung, Bedrohung und Drogendelikten vorbestraft ist, wird am 29. Juli 1999 verurteilt, aus formalen Gründen zu zwei Haftstrafen, die eine beträgt zwei Jahre und sechs Monate, die andere drei Jahre und neun Monate. Seine Strafe sitzt er in Landsberg ab. Am 14. Januar 2004 wird er vorzeitig aus der Haft entlassen, seine Reststrafe von zehn Monaten wird mit einer Reihe von Auflagen auf vier Jahre zur Bewährung ausgesetzt: Er darf unter anderem keinen Kontakt zu seiner Stieftochter aufnehmen, muss eine in der Haft angebahnte Therapie fortsetzen und sich regelmäßig bei seiner Bewährungshelferin melden. R. hält sich nicht daran. Er ruft seine Stieftochter an, kommt nicht zu Terminen mit Bewährungshelferin und Therapeut.

Am 12. Januar beantragt die Staatsanwaltschaft den Widerruf seiner Bewährung. Am 9. Februar erfolgt eine Anhörung vor der Strafvollstreckungskammer Augsburg, in der R. massiv verwarnt wird. Im März hält R. wieder Termine nicht ein. Doch erst am 2. Mai erfolgt der Beschluss, dass die Bewährung widerrufen wird, und es dauert nochmals mehr als einen Monat, bis dieser Beschluss rechtskräftig wird -- bis zum 8. Juni.

Bis dahin allerdings ist R. schon mehreren Müttern in Perlach und im Ostpark aufgefallen, wie er spielende Kinder beobachtet. Aus dem Beobachten wird am 1. Juni mehr: Er folgt der neunjährigen Carola (Name geändert) auf ihrem Heimweg von der Schule. Als Carola die Mutter einer Freundin trifft, die ihre Kinder von der Schule abholen will, fällt auch der Andreas R. auf. Sie sieht, wie er dem Mädchen, das wegen einer Verletzung am Fuß nur langsam weitergeht, nachgeht. Er folgt ihr ins Haus, fragt sie, ob er mit ihr Lift fahren darf.

Aufklärung aus der Zeitung

Carola, die zwei Selbstbehauptungskurse gemacht hat, sagt Nein und versucht, trotz ihrer Verletzung zu Fuß die Treppen nach oben zu gehen. R. steigt allein in den Lift, fährt nach oben, sucht nach ihr. Carola ruft den Lift zurück, fährt in ihr Stockwerk, das der Mann zum Glück nicht kennt und entwischt in ihre Wohnung. Am Abend geht die Mutter mit Carola Pizzaessen. Carola sieht den Mann wieder, wie er sie beobachtet. Später wird sie sagen, sie habe nichts erzählt, weil sie ihrer Mutter keine Sorgen machen wollte.

Am 2. Juni passt R. Carola schon am Morgen ab und folgt ihr zur Schule. An diesem Nachmittag erzählt Carola ihrer Mutter endlich von dem Mann. Die Mutter ruft bei der Polizei an und erhält die lapidare Auskunft einer Beamtin, dass die Mutter ihr Kind zur Schule begleiten und beim Auftauchen des Manns die Polizei rufen solle. Die Mutter aber geht am nächsten Tag, dem 3. Juni, mit ihrer Tochter zur Schule und ruft gemeinsam mit der Schulleiterin nochmals die Polizei.

Weil Carola Andreas R. so gut beschreibt, wissen die Zivilbeamten schnell, um wen es sich handelt. Sie erteilen ihm ein zehntägiges Kontaktverbot mit Carola und kündigen den Eltern an, Carola in den nächsten Tagen zur Schule zu begleiten. Warum der Mann so gefährlich ist, erfahren die Eltern erst am Wochenende aus der Zeitung, die Polizei darf ihnen keine Auskunft geben.

Als die Beamten Carola am Montag in die Schule bringen wollen, erbricht sie. Carola bleibt zu Hause -- und die Familie hört nichts mehr von der Polizei, auf Nachfragen des Vaters unter 110 weiß man nicht über den Fall Bescheid. Am Dienstag und Mittwoch organisieren die Eltern, dass Carola von einem Onkel zur Schule gebracht wird. Am Mittwochabend, dem 8. Juni, dem Tag also, an dem der Beschluss des Bewährungswiderrufs endlich rechtskräftig wird, erlaubt der Vater seiner Tochter, mit einer Freundin und ihren beiden Brüdern beim Pizzadienst an der Ecke eine Pizza zu holen.

Als die vier Kinder dort warten, sieht Carola Andreas R. Später erzählt sie ihrer Mutter, er habe sie böse angeschaut. Carola bittet den Pizzabäcker, die Polizei zu rufen. Das macht dieser zwar nicht, er begleitet die Kinder aber nach Hause. Der Vater ruft erneut bei der 110 an, es kommen zwei Beamte. Der aufgebrachte Vater will wissen, was nun mit Andreas R. passiert. Wenig später wird R. verhaftet, er sitzt jetzt in Stadelheim.

Nicht, weil er als vorbestrafter Sexualstraftäter mehrmals versucht hat, die neunjährige Carola allein abzupassen. Sondern weil er schon lange davor gegen seine Auflagen verstoßen hat. Hätte er diese bisher erfüllt, hätte er zwar wegen des Verstoßes gegen das Kontaktverbot in Gewahrsam genommen werden können -- aber nur für maximal zwei Wochen. Und die Justizmühlen hätten einen Bewährungswiderruf ermahlen können. Wie lange das dauern kann, ist bekannt.

Carola ist seit den Vorfällen, vor allem, seit sie darüber in der Zeitung gelesen hat, sehr ruhig. Carolas Eltern fühlen sich von der Polizei allein gelassen, sagen sie. Sie verstehen nicht, warum die Frau, die gesehen hat, wie Andreas R. Carola verfolgt hat, nicht als Zeugin befragt wurde. Sie verstehen auch nicht, warum nicht alle Eltern von der Schule informiert wurden, dass ein Mann ein Kind verfolgt hat -- von dessen Vorgeschichte man da zumindest gewusst hat, dass sie schlimm sein muss. Und sie haben Angst, was passiert, wenn Andreas R. die restlichen zehn Monate seiner Haft abgesessen hat. Dann ist Carola zehn.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: