Kinderfreundlichkeit:Familien - in München eine seltene Gattung

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München ist Spitze. Hat die boomendste Wirtschaft, das größte Volksfest, den besten Alpenblick, die flottesten Autos, den wohlhabendsten Yorkshireterrier. Familien hat München auch. Doch ins Lebenskonzept dieser Stadt scheinen sie nur schwer zu passen.

Von Bernd Kastner

Kürzlich haben Wissenschaftler vom Prognos-Institut ganz Deutschland auf Familienfreundlichkeit untersucht. Alle 439 Städte und Kreise haben sie abgeklopft und verglichen und gruppiert. München, so das Ergebnis, ist eine ¸¸Singlestadt", die als ¸¸biografische Durchlaufstation" dient. Die Menschen lassen sich hier ausbilden, sammeln erste Berufserfahrung - ¸¸ihre Familie aber gründen sie hier nicht", schreiben die Forscher im Familienatlas.

Nun lassen sich aus so einer Bewertung viele Wahrheiten lesen. Zum Beispiel, dass München, verglichen mit Städten wie Berlin, Hamburg, Köln, Frankfurt, Düsseldorf und Stuttgart, ganz gut dasteht: Mit den besten Werten bei Bildung und Arbeitsmarkt, Sicherheit und Wohlstand, und mit einem dritten Rang bei Demografie, Betreuungsinfrastruktur, Familie und Beruf.

In Scharen ins Umland

Allerdings kommen auch Zweifel an der Aussagekraft der Studie auf. Unter den untersuchten Indikatoren fehlt einer: die Höhe der Miete. Hier ist München unangefochten Meister, was einerseits schmeichelt, denn die Stadt ist begehrt wie keine andere. Doch die Miete treibt Familien hinaus ins Umland.

Klaus Illigmann, Chef der Abteilung ¸¸Bevölkerung und Wirtschaft" im Planungsreferat, zieht auch aus dem Negativen eine positive Essenz: Dass die Münchner Familien in Scharen ins Umland abwandern, dass nur in jedem siebten Haushalt Kinder leben - ¸¸das war noch nie anders." München habe sich also nicht verschlechtert, und müsste er die Kinderfreundlichkeit benoten, er würde eine Zwei geben. Klingt gut.

Angelika Gebhardt, kinder- und jugendpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Rathaus, ist stolz auf die Münchner Geburtenrate: ¸¸Da sind wir Spitze!" Wirklich? ¸¸Ich stelle fest, dass wir gut liegen und dass das mit der Politik der Stadt zu tun haben muss." Eine interessante Interpretation. Denn laut Familienatlas liegt die Fertilitätsrate in München bei 1,29 Kindern pro Frau (Köln: 1,31; Berlin: 1,19). Der deutsche Mittelwert liegt bei 1,4 - und nötig wären 2,1, soll Deutschland nicht weiter schrumpfen.

Anstatt weiter mit Daten zu jonglieren und sie so lange zu rütteln, bis das Gewünschte rauskommt, kann man auch über die Familienpolitik der Stadt reden, und über das Familienklima.

Kompetenzgerangel zwischen den Referaten

Mit Hubertus Schröer zum Beispiel. Der ist seit 15 Jahren Chef des Jugendamts und sagt: ¸¸Ich glaube nicht, dass wir eine konsistente Familienpolitik haben." Zu wenig abgestimmt seien die Bemühungen der einzelnen Referate, und es sei nicht förderlich, dass für die Krippen das Sozialreferat zuständig sei, für die Kindergärten aber das Schulreferat. Hinter vorgehaltener Hand hört man aus der Verwaltung, dass die ¸¸innige Abneigung" der beiden Referenten Friedrich Graffe und Elisabeth Weiß-Söllner der Kooperation nicht gerade dienlich sei.

Zur Zeit arbeiten viele Abteilungen vieler Referate an einer ¸¸Leitlinie Familienpolitik", die eigentlich schon 2004 fertig sein sollte. Für ¸¸Beschäftigung und wirtschaftliche Prosperität", ¸¸Stärkung der Stadtteile" oder ¸¸Neue Medien" gibt es solche Leitlinien schon seit Jahren. Problem im Familienbereich sei die Koordination. Es gebe zwar unzählige Angebote, doch Familien wissen oft nicht, wo sie was bekommen: Bei der Stadt? Einem freien Träger? Einer Privatinitiative?

Schröer denkt laut nach. Vielleicht sei die Kinderbetreuung, in die München viel investiert habe und die nicht schlecht dastehe, bislang zu hoch bewertet. ¸¸Die Tagesbetreuung allein reicht nicht." Was nutze der beste Krippenplatz, wenn die Eltern die Miete nicht zahlen können? Oder die Mutter nicht weiß, wo sie mit ihren Kindern im Freien spielen soll.

Familie sein kostet (zu) viel Geld

Schröer sinniert über das ¸¸Stadtklima", den vielleicht entscheidenden Faktor. Wer an der Isar, wo die Oberfläche glänzt wie nirgends, wo Events Maßstäbe setzen und sie einen Boutiquenbesitzer wie einen König beerdigen, wer hier mitglänzen will, entscheide sich eher gegen Familie als in einer anderen Stadt. Familie sein kostet viel Geld.

Dann sagt Hubertus Schröer: ¸¸Das Klima für Familien ist rauer geworden."

Das ist zweifellos ein gefühlter Wert. Doch das Sozialreferat verfügt über Messstationen für den Klimawandel. Jede Krippe ist eine, jeder Bolzplatz, jedes Jugendheim. Sie registrieren eine wachsende Front gegen Sozialeinrichtungen aller Art. Schröer nennt die bisweilen erlebte ¸¸aggressive Feindlichkeit" eine seiner ¸¸erschütterndsten Erfahrungen". Jede Einrichtung für Kinder, Jugendliche und Familien stehe von vornherein unter Generalverdacht: Die stören. ¸¸Vor zehn Jahren war es undenkbar, dass wir für eine Krippe kämpfen müssen."

Reinhard Paesler ist auch eine Art Klimaforscher. Er lehrt als Wirtschaftsgeograph an der LMU und sagt, dass die Münchner Familien-Werte ja auch vom Zufall der Grenzziehung abhingen: Würden Karlsfeld oder Gröbenzell oder Gräfelfing zur Stadt gehören, stünde München gleich familienfreundlicher da. Weil er in der Stadt arbeitet und in Gröbenzell wohnt, wo er auch im Gemeinderat sitzt, macht er interessante Beobachtungen. So glaubt Paesler nach wie vor an die Wirkung der Kinderbetreuung. In seiner Gemeinde haben sie mehr Kindergartenplätze als Kinder, was die Zuzügler sehr schätzten.

Flucht ins Umland

Er mag die Vermischung von Beruf und Privatem eigentlich nicht, aber dann berichtet er doch vom täglichen Pendeln. In der S-Bahn sehe er, wie Kinder zunehmend rücksichtslos behandelt würden. Neulich hat er in der U-Bahn eine Mutter beobachtet, die mit dem Kinderwagen eingestiegen ist. ¸¸Keiner ist freiwillig zur Seite gegangen", die Frau musste sich lautstark Platz schaffen. Einen hat Paesler sagen hören: Muss die denn um diese Zeit mit dem Kinderwagen unterwegs sein? ¸¸Da ist es doch kein Wunder, wenn . . ."

Wenn Familien die Stadt fliehen.

Reinhard Paesler erzählt von den Gemeindefesten. Wenn da nur zwei, drei Kinder rumspringen, dann fühlten sich die Erwachsenen gestört. Wenn es aber Dutzende sind, ¸¸dann werden sie als angenehme Abwechslung wahrgenommen". Obwohl viele Kinder viel Lärm machen? Paesler lacht. Es gebe eben Reaktionen, die rational nicht zu erklären sind.

Was er auf dem Land erlebt, beobachtet Jana Frädrich in der Stadt im Großen: Die Münchner seien Kinder nicht mehr gewöhnt. ¸¸Jeder denkt nur noch an sich selbst", sagt die städtische Kinderbeauftragte. Klar, sie kämpfe für mehr Betreuungsangebote, aber: ¸¸Das Abdrängen der Kinder ausschließlich in Kinderreservate, das finde ich sehr traurig."

Sagenhafter Babyboom

Jana Frädrich hat einen Traum. Sie wünscht sich ein großes Haus mit dreißig Wohnungen, wo alle Generationen leben, nicht isoliert, sondern miteinander. Wo die Oma auf das Nachbarskind aufpasst, die Teenager babysitten und die allein erziehende Mutter auch mal ins Kino kann. Frädrich hofft, dass eine Wohnbaugesellschaft anbeiße.

Ein anderes Projekt ist schon Wirklichkeit, in der Messestadt, wo die Bewohner nicht aufs Kind, sondern aufs Auto verzichten und den Parkplatz den Kindern spendieren. ¸¸Wohnen ohne Auto" heißt das dann. Aber welche Zukunft hat diese Idee in einer Stadt, in der Gehsteigparker, die Müttern mit Kinderwägen den Weg versperren, mit mehr Verständnis rechnen dürfen als die Kinder, die Kreidestriche auf den Fußweg malen.

Nachholbedarf für die Verwaltung

Im Büro von Hubertus Schröer kommt das Gespräch aufs Glockenbachviertel mit diesem sagenhaften Babyboom. Irgendwas, sagt der Jugendamtschef, muss da besser funktionieren als in der Gesamtstadt. Das wäre doch ein Ansatzpunkt, so einen Gegentrend zu untersuchen und zu fördern. Wie er so laut nachdenkt, überzeugt er sich selbst: Strukturen muss man im Kleinen verändern. Mit Mediatoren etwa, die ins Viertel gehen und Konflikte schlichten. Und weiter: Wie wäre es mit ¸¸präventiver Mediation"? Die Nachbarn rechtzeitig auf den Neubau einer Krippe vorbereiten. Die Verwaltung habe Nachholbedarf, sagt Schröer.

Mediatoren. Klingt vernünftig. Und es sagt viel über die Familienfreundlichkeit dieser Stadt aus. Da schwärmen womöglich bald hoch qualifizierte Vermittler aus, bezahlt mit Steuergeldern, um Bürgern klar zu machen: Die Stadt braucht Familien. Familien brauchen Krippen. Und Kinder sind gar nicht so schlimm.

© SZ vom 01.02.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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